Es ist das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas, das figurative Ausrufezeichen in Berlin, das zusammen mit der darunter gelegenen Ausstellung niemanden kalt zu lassen scheint. Gedenken, nicht nur am heutigen Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, darf nicht zum blossen Ritual für die Toten verkommen. Davon zeugt auch der Auftritt des Knesset-Sprechers, des Vorsitzenden des israelischen Parlaments in Jerusalem, der auf hebräisch eine Rede vor dem Bundestag hält.
Am Abend des 27. Januars 2022 dachte ich, mit einem Seufzer: “War das ein Sch***tag!” Aber nur ganz kurz, dann erschrak ich fürchterlich darüber! Denn, darf man das sagen, an einem solchen Gedenktag? Darf man das sagen, im Wissen darum, dass in den Tagen, Monaten, Jahren vor dem Tag, an dem wir gedenken, sehr viele Menschen, auch meine eigenen Eltern, das garantiert nie dachten, denn ein Tag war schrecklicher als der davor. Und meine Grosseltern mütterlicherseits dachten nichts mehr, zumindest nicht in dieser Welt. sie gingen bereits im Sommer davor ins Gas, wurden zu zwei Menschen von mehr als 6 Millionen Juden, deren wir gedenken.
Von den beiden Losungen – “nie wieder” und “nie vergessen” – ist mir Letztere gedanklich näher. Nicht bloss, weil die andere ein objektiv unerfüllbarer Wunsch ist, wie uns die Geschichte lehrt: was der Mensch einmal gelernt hat, ist von bleibendem Wert. Und insbesondere auch, weil Letztere keinesfalls tote Juden verehrt. Die Aufforderung an das Erinnern ist verbunden mit der Mahnung, sich Klarheit darüber zu verschaffen, wie es dazu gekommen ist.
Der industrielle Massenmord stand nicht am Anfang einer Entwicklung sondern an ihrem Ende. Die sechs Millionen ermordeten Juden sind nur das vorläufig letzte Kapitel einer jahrhundertealten Abfolge von Ereignissen. Lange vor der Wannseekonferenz trafen sich im Winter 1349 der Strassburger Bischof, Vertreter der drei Städte Strassburg, Freiburg i.Br. und Basel sowie elsässische Herrschaftsträger zusammen, um sich zu verabreden, in welcher Weise sie sich ihrer jüdischen Mitbürger entledigen könnten. Auf dem Höhepunkt der ersten Pestwelle verfing die Mär von den durch Juden vergifteten Brunnen besonders leicht. Auf einer Insel im Rhein wurde – die Zahlen schwanken zwar, aber das dürfte eine realistische Schätzung sein – rund zwei Drittel der jüdischern Bevölkerung Basels in einer Hütte zusammen getrieben und verbrannt. Eine nicht unwesentliche Rolle dürfte dabei gespielt haben, dass die Mehrheit der Basler Nobilität bei jüdischen Geldverleihern schwer verschuldet gewesen war: Schuldentilgung durch physische Vernichtung der Gläubiger.
Im ausgehenden 15. Jahrhundert resultierte aus dem sog. Alhambra-Edikt des spanischen Königspaares, woraus sich die Vertreibung der Juden von der iberischen Halbinsel in die Länder um das Mittelmeer in Europa und Afrika ergab: Neapel, Venedig, Florenz, aber auch Saloniki und Konstantinopel, sowie in die Levante. Mein Freund Gaby Spronz erzählt davon in einem Vortrag – immer wieder – und spannt den Bogen zur Tagesaktualität. Darüber wurde auf Morvay.Press zuletzt hier berichtet. Denn Antisemitismus ist heute wieder, vielleicht noch immer, präsent – subjektiv betrachtet stärker denn je in meinem Leben.
Seit dem Tod meiner Mutter, vor knapp einem Jahr und daher noch sehr präsent, besitze ich mehrere Schätze. Es ist ihr ideeller Wert für mich, der sie zu Schätzen macht: die Reifezeugnisse meiner Eltern, aber auch die Auszüge aus den Heiratsregistern, über die Eheschliessungen meiner Grosseltern. An meine Grossmutter mütterlicherseits habe ich noch ein paar konkrete Erinnerungen, immerhin war ich 10 Jahre alt, als sie starb. Aber von den anderen Grosseltern sind diese Dokumente die einzigen Erinnerungsstücke, die ich noch habe. Streng genommen hatte ich nie das Glück, meine Grosseltern zu kennen.
Der Sprecher des israelischen Parlaments, der Knesset, MK Michael Levy war, zusammen mit der Holocaust-Überlebenden Inge Auerbacher aus dem badischen Kippenheim, gestern Gast im Deutschen Bundestag in Berlin. Am Ende seiner Rede – gehalten in Hebräisch – rezitierte er das Kaddisch für die Opfer. Bei den ersten Worten musste er innehalten, er wurde von den Emotionen überwältigt. In dem Zeitpunkt, das gestehe ich ohne Scham, rollten schon die dicken Tränen an meinen Wangen herunter. Aber erst im Nachgang wurde mir klar, wie stolz wir alle sein dürfen, diesen Augenblick mit MK Levy erleben zu dürfen: eine Ansprache, an der offiziellen Gedenkstunde des deutschen Parlaments, und dann das Kaddisch für die Toten. An Symbolkraft kaum zu übertreffen!
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