Lapid: Israel und Gaza – wie weiter?

FM Lapid bei der internationalen Konfernez zur Terror-Bekämpfung am 11. September 2021 in Herzliya, Reichman-Universität (vormals ICD Herzliya) (Copyright: ICT Webcam Screengrab)

Letzte Aktualisierung am 19. September 2021 durch Thomas Morvay

Herzliya/Israel – Das israelische Aussenministerium veröffentlicht auf ihrer Website die Rede von Ministers Yair Lapid am Internationalen Institut zur Terrorbekämpfung der Reichmann-Univerität. Darin zeichnet Lapid ein, von bisher erfolglosen Ansatz abweichende Herangehensweise auf.

Israel hat sich 2005, in einem einseitigen Schritt aus der Küstenenklave im Nordsinai zurückgezogen. Nach Beendigung der Zweiten Intifada der palästinensischen Araber und dem Tod des langjährigen PLO-Führers Arafat, erhoffte man sich eine Entspannung und Beruhigung an der Südfront. Doch das Gegenteil war der Fall: die Desavouierung der Parlamentswahlen und das Zerwürfnis zwischen Fatah und Hamas resultierte in noch mehr Gewalt und kriegerischen Auseinandersetzungen, Raketenhagel und Brandbomben auf umliegende Gemeinden, welche das Leben der Anwohner einschränkten und in der Wirtschaft grosse Schäden verursachten. Ein Weiter-So könne es nicht geben, so Lapid zu Beginn seiner Ansprache.

Die Politik, welche Israel bis jetzt verfolgte, hat die Situation nicht wesentlich verändert. Die Grenzschliessungen haben weder den Schmuggel noch die Herstellung von Waffen stoppen können. […] Wir müssen anders vorgehen.

Quelle: Israel Ministry of Foreign Affairs; eigene Übersetzung

Die Bevölkerung im Gazastreifen müsse wissen, dass es die Hamas ist, die ihr ein normales Leben vorenthält. Dasselbe müsse auch gegenüber der internationalen Gemeinschaft klar gemacht werden. Es brauche ein mehrjährig angelegtes Projekt „Wirtschaftsentwicklung für Sicherheit“, welches beidseits der Grenze Stabilität herstellt. Erstaunlicherweise, sagt Lapid, wäre ein solches Projekt bisher noch nie ernsthaft versucht worden. Israel werde allerdings weiterhin nicht mit Hamas verhandeln, schliesslich gäbe es keine Basis für einen Dialog mit Terroristen, die sie vernichten wollten. Die Hamas spräche nicht für die Palästinenser, so der israelische Aussenminister. Israel akzeptiere nur die Autonomiebehörde, welche von Lapid „Palestinian Authority“ genannt werden, als die legitimen Vertreter der palästinensischen Araber.

Wie würde ein solches Programm aussehen? Ein weiter so, wo extremistische Elemente aus Gaza die Bevölkerung des Südens in Israel bedrohten, aber die Welt Israel dafür die Schuld gibt, dürfe nicht hingenommen werden.Eine kurzfristige Lösung dafür gäbe es nicht. Selbstverständlich erlaube die militärische Stärke der israelischen Armee eine gewisse Handlungsfreiheit, und dennoch müsse das eben auch auf der diplomatischen Bühne zu konkreten Schritten führen. Diese stellt der Aussenminister so dar:

Phase 1: Verstärkte humanitären Aktivitäten in Gaza, gekoppelt mit zeitgleich zu erfolgendem Vorgehen gegen die militärische Infrastruktur der Hamas. Wiederherstellung der Stromversorgung, Aufnahme der Gasversorgung, Aufbau und Betrieb einer Kläranlage, Verbesserung der Gesundheitsversorgung, und im Gegenzug dazu Vereinbarung eines langfristigen Waffenstillstandes mit den Extremisten, als Ergebnis internationaler Vermittlung (vermutlich durch Ägypten). Die internationale Gemeinschaft muss dazu ihren beträchtlichen Einfluss auf die Hamas geltend machen: Verhindern des industriell betriebenen Schmuggels und ein Kontrollmechanismus für die wirtschaftlichen Aktivitäten, um ein Abfliessen der Fördermittel an die militärische Aufrüstung des Terrororganisation zu verhindern. Notwendig sei auch, von Anfang an die Kriterien für die Erfolgskontrolle festzulegen: Benchmarking.

Während dieser ersten Phase behält Israel die Kontrolle über die Strom- und Wasserversorgung, bis sichergestellt ist, dass die langfristige Waffenruhe hält. Die Autonomiebehörde muss in diesen Prozess eingebunden sein, ihr wird die Kontrolle der Grenzübergänge obliegen. Dafür wird Israel die erneute Öffnung des Grenzpostens bei Karni erwägen, während Ägypten die Kontrolle über den Übergangspunkt bei Rafah behält. Die zentrale Rolle Ägyptens, ihre Fähigkeit mit allen Parteien zu reden, sind in dieser Phase von essentieller Bedeutung. Falls diese erste Phase erfolgreich ist, kann die zweite Stufe eingeleitet werden, in der die Autonomiebehörde erneut zentrale Bedeutung in Gaza erlangt, die durch eine entsprechende Entschliessung des UN-Sicherheitsrates abgesichert wird.

Phase 2: ein umfassender Plan wird vereinbart, welcher aufzeigt, wie die Zukunft in Gaza aussehen kann, falls die Hamas die Prinzipien des Nahost-Quartetts anerkennt. Dieser detailliert ausformulierte Plan wird konkret zeigen, wie Lebensqualität im Gazastreifen aufgebaut werden kann, nachdem die militärische Infrastruktur zerschlagen ist, allgemeine Ruhe einkehrt und ‘Wırtschaftsentwıcklung für Sicherheit’ ım Einzelnen umgesetzt werden kann. Es soll dabei eine künstliche Insel vor der Küste aufgeschüttet werden, welche den Bau eines Hafens ermöglicht. Ebenso ist eine Verbindung zwischen dem Streifen und der Zone unter Verwaltung der PA vorgesehen. Investitionen durch die internationale Gemeinschaft sowie gemeinschaftliche Projekte von Israel, Ägypten und der Autonomiebehörde sollen in dieser Phase gefördert werden, und der Ausbau einer Industriezone ın der Umgebung des Erez-Kontrollpunktes gefördert werden, welche den Bewohnern Arbeitspätze sichert. Die Verwaltung und Überwachung dieser Aktivitäten übernehmen die Geberländer, einschliesslich der EU und der Vereinigten Staaten von Amerika, ergänzt durch Weltbank und IMF. Die Golfstaaten, angeführt durch die Emirate, werden ebenfalls einbezogen.

Wie zu erkennen ist, adressiert der Vorschlag in keiner Weise die sog. „Zwei-Staaten-Lösung“ (2SS). Lapid erklärt dazu, seine Einstellung in dieser Frage sei allgemein bekannt. Er umschifft damit, dass das Ziel „2SS“ in der regierenden Koalition in Israel höchst umstritten, und ein gemeinsames Vorgehen daher absolut nicht umsetzbar ist. Was der Aussenminister mit „political conditions in Israel and the Palestinian Authority“ meint, ist die wahre Zerreissprobe, die der amtierenden Regierung bevorsteht. Unklar ist, wen Lapid ansprechen will, wenn er die „Nullsummen-Mentalität“ im Verhältnis gegenüber den „Palästinensern“ anprangert. Lapid irrt, wenn er meint, der palästinensischen Seite würden diese Dissonanzen nicht auffallen. Sie werden, wie bis anhin, diese Differenzen gegen Israel weiter ausspielen.

Doch, was wenn Lapids Kalkül aufgeht, was seine Berechnung es auch sein mag. Im schlimmsten Fall kann demonstriert werden, was Israel seit Jahr und Tag sagt, dass es nämlich auf der anderen Seite keine Gesprächspartner gibt. Ob dem so ist, weil es tödlich sein kann, mit Israel zu reden, oder ob es Überzeugungstäter sind, die sich derart weit in eine Ecke manövriert haben, aus der sie nicht mehr rauskommen, oder ob es schlicht mittelmässige Player sind, die das Format nicht aufbringen, auf ihrer Seite das Terrain zu ebnen, spielt keine ausschlaggebende Rolle. Am anderen Ende der Skala kann jedoch tatsächlich so etwas wie ein Wandel eingeleitet werden. Wenn es denn stimmt, was zuletzt in einem Vortrag von Oliver Vrankovic (wir berichteten darüber) zu hören war, dass die landwirtschaftlichen Siedlungen ihre Arbeiter aus Gaza nie ganz alleine gelassen haben und es nach wie vor Kontakte – und auch gewisse Geldströme – gibt, kann auf dieser Basis tatsächlich ein Prozess entstehen, an deren Ende eine Wende zum Besseren herauskommt. Es bleibt abzuwarten – wie so häufig in dieser so leidgeprüften Region.

Über Thomas Morvay 311 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

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