Gedanken zum Thema Versöhnung

Ein Gläubiger bei der Verrichtung eines Gebets, das traditionell zwischen Neujahr und Jom Kippur aufgesagt wird, während Brotkrümeln ins Wasser geworfen werden. (Photo credit: ZUMA Wire / imago Copyright: Stefan Jeremiah)

Letzte Aktualisierung am 15. September 2021 durch Thomas Morvay

(Jerusalem/Israel) – Am 10. Tag des jüdischen Monats Tischri begeht die jüdische Welt Jom Kippur, zu deutsch häufig als Versöhnungstag bezeichnet. Im aktuellen Jahr fällt der Feiertag auf den Jahrestag der Unterzeichnung der ersten Abkommen der sog. Abraham-Accords. Mit ihr versöhnten sich die vormals verfeindeten arabischen Staaten Bahrain und Vereinigte Arabische Emirate, unter der Schirmherrschaft der Vereinigten Staaten von Amerika, mit Israel. Aktuell hielt der Aussenminister in der Regierung Bennett, zugleich Chef der Partei Yesh Atid, am Montag eine vielbeachtete Rede zu möglichen, international verankerten Schritten der Annäherung an die in Gaza regierende Hamas: nicht den grossen Wurf, aber kleine Schritte, die beider Seiten Interessen fördern.

Als vor einem Jahr auf der Südseite des Weissen Hauses die Abraham Accords feierlich unterzeichnet wurden, als die eingeladenen jüdischen Gäste auf dem Rasen des Weissen Hauses sich zum Gebet und Danksagung versammelten, war dies gewiss auch ein epochales Ereignis für die USA. Der orthodoxe Schwiegersohn Präsident Trumps, dem eigentlich niemand zugetraut hatte, im Nahen Osten etwas zu bewegen, schaffte das Unmögliche. Mit der Konzentration auf die wirtschaftlichen Aspekte der Annäherung erschuf der Präsident mit seinem Team erst eine Basis, als sogenannte Vision der Annäherung zwischen Israel und den palästinensischen Arabern. Das Rezept brachte sodass die Aussöhnung mit bisher einem halben Dutzend Golfstaaten und nordafrikanischen Ländern. Klar, die ewigen Miesepeter unter den Auguren – die meisten von ihnen während Jahrzehnten erfolglos, auch aber nicht nur, weil die Zeit dafür noch nicht da war – versuchten die Bedeutung herunter zu spielen, u.a. mit dem Hinweis darauf, es seien ja nicht „Nachbarn“ im herkömmlichen Sinne, und mit diesen Ländern hätte es keinen Krieg gegeben. Das ist blosse Semantik, denkt man etwa an die Zeit der „Drei-Nein“ von Khartum nach dem Sechs-Tage-Krieg zurück. Die vergangenen zwölf Monate haben gezeigt, was möglich ist: regulärer Tourismus mit Direktflügen zwischen den Staaten, der Austausch von Botschaftern und Einrichtung diplomatischer Vertretungen und Kanälen, sowie extensive Wirtschaftsbeziehungen und Zusammenarbeit im zivilen Sektor.

Nach über zwei Jahren von praktisch permanentem Wahlkampf, wurde im letzten Sommer eine neue Regierung in Israel gebildet. Das Ende der Ära Netanjahu wurde durch eine beispiellos breit abgestützte Koalition von rechts bis links, allerdings ohne die orthodoxen Parteien, abgelöst. Vordergründig als einzige Gemeinsamkeit galt der Wunsch „nur nicht Bibi“, und in der Tat sind die Grenzen des Machbaren bereits sichtbar. Dennoch, zur deutlich geäusserten Limitierung, dass eine sog. Zwei-Staaten-Lösung auch mit der 8-Parteien-Koalition in Israel nicht möglich ist, gesellt sich jüngst die Skizzierung einer Vorgehensweise zur schrittweisen Annäherung, auch an die im Gazastreifen regierende Hamas. Ausgerechnet der als Aussenminister amtierende Yair Lapid, der Anführer der grössten Koalitionspartei Yesh Atid, hielt am vergangenen Montag eine vielbeachtete Rede – am kürzlich in Reichmann-Universität umbenannten IDC Herzliya – zu diesem Thema. Während er, realistischerweise, Verhandlungen ganz klar ausschloss, plädierte Lapid für eine Vision aus kleinen Schritten, die erstens laufend auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen sind, für ihn aber auch nicht ohne eine internationale Kontrolle und Einbindung des Auslands denkbar wären. Was auch immer die Ziele solcher Vorschläge sind, und der Katalog möglicher Erklärungen reicht von Aktionismus, über Profilierung, Druck auf die Autonomiebehörde in Ramallah, bis hin zu echtem wirtschaftlichen Annähern, um die desolate Lage in Gaza zu verbessern – es ist zu begrüssen, dass auch die aktuelle Regierung sich zu diesem Grundproblem des Zusammenlebens mit den arabischen Nachbarn vernehmen lässt.

Wenn das Kol Nidre zu Beginn des Festes ertönt, ist dies für uns Juden ein absoluter Höhepunkt der 10 Tage seit dem Beginn des neuen Jahres: alle Gelübde – so die gebräuchlichste Übersetzung – etwa jene, die unter Zwang abgegeben wurden, oder die unüberlegt und unvorsichtigerweise geleistet werden, sollen vor Gott vergeben sein. Natürlich ist das nicht gleichbedeutend damit, wie etwa von schlicht antisemitischen Hetzern behauptet, dass ein mit Juden geschlossener Vertrag oder Vereinbarung, von Anbeginn an in unlauterer Absicht abgegeben worden wäre und sich Juden damit von jeglicher Verpflichtung freisprechen können würden. Dass auch solche Interpretationen immer wieder kolportiert wurden, führte andererseits dazu, dass das Kol Nidre zeitweise aus der Lithurgie verschwand. Dessen ungeachtet ist es eines der berühmtesten Gebete im Judentum, das zu Recht hoch geachtet ist. Nicht nur religiöse Menschen verbinden damit die Besinnung auf ein sittliches Verhalten und die Absicht, fortan ein besserer Mensch werden zu wollen. Solcherart reflektiert, hat es verdientermassen hohe Beachtung.

Mögen Sie alle ins Buch des Lebens eingetragen werden. Und allen, die an Jom Kippur fasten, ein unbeschwertes Gelingen!

גמר חתמה טובה

Über Thomas Morvay 311 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*