Balagan in Ramat Gan

Oliver Vrankovic berichtete via Liveschaltung, auf Einladung des Ganey Tikva Vereins e.V. (Screenshot YouTube)

Letzte Aktualisierung am 17. Mai 2021 durch Thomas Morvay

(Bergisch-Gladbach) – Vorletzte Woche, als mir die Ankündigung einer Veranstaltung mit Oliver Vrankovic des Ganey-Tikva-Vereins e.V. auf Facebook auffiel, hatte ich spontan den obigen Titel ausgesucht. Es hätte ein durchaus unterhaltsames Ereignis werden können, wo am 73. Jahrestag der Staatsgründung Israels Oliver über die Bewältigung der Corona-Pandemie und speziell über seine Arbeit in einem Altenheim berichtet hätte. Die jüngsten dramatischen Ereignisse diktierten und erzwangen eine andere Veranstaltung – aber am Ende stiessen wir dennoch auf Israels Geburtstag an.

Balagan – das für die wenigen nicht Eingeweihten, die diese Zeilen lesen werden – das ist eine Situations- und Zustandsbeschreibung, häufig mit einem zwinkernden Auge. Strenggenommen bedeutet es Chaos, was ja ein nicht wirklich positiv belegtes Wort ist. Und doch ist Balagan Teil der israelischen Wirklichkeit, und ist eben so viel mehr als nur Durcheinander. So beschreibt es beispielsweise sehr treffend jenen Teil des Unternehmensgeistes, das Israel zur Start-Up Nation gemacht hat: der trockene wissenschaftliche Begriff “Chaos-Theorie” ist bei Weitem nicht so sexy, darüber sind wir uns hier hoffentlich einig. In der Schweiz haben wir einen Begriff, der die wesentliche Aspekte von Balagan ebenfalls ganz gut abdeckt. Denn was in Israel gegenwärtig los ist, ist mit dem schweizerdeutschen Ausdruck “Riese-Huere-Puff” leider ziemlich treffend umschrieben.

So ist es ein sichtlich übermüdeter Oliver, der uns aus Ramat Gan, nördlich von Tel Aviv, an diesem Freitagabend, den 14. Mai 2021, zugeschaltet ist. Es ist die 3. Nacht seit Beginn des Raketenbeschusses aus Gaza, und neben der “ordentlichen” Nachschicht im Altenheim, bestehend aus 2 Mitarbeitern und einem Nachtwächter, sind auch 3 zusätzliche Kräfte auf Abruf, falls der Alarm ertönt, und die Bewohner geweckt und an sichere Orte begleitet werden müssen. Doch zusätzlich zu den Sorgen, die ihm die Raketen bereiten, muss Oliver auch von den zunehmend gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen jüdischen und arabischen Israeli, in Orten wie Ramle, Lod oder Yaffo berichten – Paradebeispielen der Koexistenz. Das zwingt weitere Mitarbeiter, im Heim zu bleiben, weil sie nicht in ihre Wohnorte kommen, da sie zum Teil um ihre Leben fürchten müssen. Auch Oliver erzählt, dass ihn am Tag zuvor, nach Ende seiner Schicht, kein Taxifahrer an seinen Wohnort Ramle zu fahren bereit war.

Was die Raketen betrifft, so bestätigt er den Eindruck, den man aus den hiesigen Nachrichten, oder auch via den gängigen Handy-Apps gewinnt, dass sowohl die Intensität des Raketenbeschusses wie auch die Reichweite der durch Hamas eingesetzten Flugkörper deutlich zugenommen hat. Oliver kann auf insgesamt 13 Jahre in Israel zurückblicken, in dieser Zeit erlebte er mit der aktuellen, insgesamt 4 kriegerische Auseinandersetzungen mit den Terroristen der Hamas. In einer historischen Rückschau schildert er für uns, dass die Kontakte zwischen den Orten und Gemeinschaftssiedlungen im Süden Israels und Gaza, selbst nach der Rückgabe des Sinai (im Zuge des Friedensvertrags mit Ägypten) weiter anhielten. Das Erscheinen der Hamas, die erste Intifada, am Ende der 1980er Jahre hat dann vieles verändert, und nach der zweiten Intifada waren die Drangsale der regierenden Hamas zu gross, so dass keine Arbeiter aus Gaza nach Israel kamen. Dennoch gäbe es verschiedene Kibbutzim, welche diesen Menschen nach wie vor Geld zukommen liessen – also quasi deren Lohn weiter bezahlten. Schliesslich, so die Argumentation, diese Menschen seien nach wie vor angestellt, sie sind bloss an der Arbeitsleistung verhindert. Solche Informationen bekommt man natürlich in den westlichen Medien kaum zu lesen!

Olivers zweites Thema war sodann der eskalierende Streit innerhalb Israels, zwischen jüdischen und arabischen Israelis. Er bezeichnet diese Konflikte als komplexer und belastender als den Terror aus Gaza, und er misst ihnen auch deutlich grösseres Potenzial zu, nachhaltige Schäden zu verursachen. Ausschreitungen, mit zum Teil pogromhaften Zügen, haben ihren Ursprung in einigen wenigen Ereignissen: Übergriffe jugendlicher, arabischen Israelis auf orthodoxe Juden. Zumeist wurden diese Übergriffe auf sozialen Medien veröffentlicht, weswegen auch schon der Übername “Tik-Tok-Intifada” die Runden machte. Dazu kamen Scharmützel auf dem Tempelberg, zwischen arabischen Jugendlichen in der Al-Aksa Moschee und israelischen Sicherheitskräften. Solche Auseinandersetzung zu Ramadan habe es auch in den Vorjahren schon gegeben, doch seien sie in diesem Jahr besonders heftig gewesen. Erstens, weil die israelische Polizei strikter kontrolliert habe, und den Platz beim Damaskus-Tor, durch den man zwangsläufig kommen muss, auf dem Weg zum oder vom Tempelberg, vorsorglich gesperrt hätte. Auch Strassenkämpfe extremistischer jüdischer Israeli mit arabischen Israeli gab es. Und schliesslich gibt es die Auseinandersetzung um die Mietliegenschaften im Stadtteil Sheikh Jarrah. Speziell in Sheikh Jarrah, darauf weist er gesondert hin, war auch das Verhalten des am rechten Rand politisierenden Itamar Ben-Gvir – der im letzten Wahlkampf und in der aktuellen Regierungsfindung ebenfalls schon aufgefallen war. Seine parlamentarische Immunität nutzend eröffnete er ausgerechnet auf diesem Pulverfass ein Büro. Allerdings wurde Ben-Gvir auch sehr schnell durch besonnenere Kräfte zurückgepfiffen.

Doch bleibt der Bericht von Oliver Vrankovic nicht bei der sachlichen Beschreibung der Fakten stehen. Was ihn authentisch macht, sind die offen dargestellten Emotionen, die lebensnahen Situationen. Man sieht und hört einen jungen Mann, mit müder Stimme, von den eingestandenermassen schlaflosen Nächten. Und wohl auch mit einer gewissen, ehrlichen Ratlosigkeit, angesichts dessen, was um ihn herum passiert. Terror wird fassbar wenn man hört, wie er am Strand mit seiner kleinen Tochter buchstäblich um sein Leben rennt, wenn die Sirenen ertönen. Und es ist plötzlich sehr konkret, wenn er davon spricht, dass die Randalierenden durchaus auch die selben Menschen sein können, mit denen er gemeinsam auf der Stadionstribüne beim Fussball gestanden war. Da ist man als Zuschauer und Zuhörer sofort mitten drin – viel mehr, als wenn man in den Medien die Bilder vom Damaskus-Tor sieht und die nüchterne Korrespondentenstimme hört. Oliver Vrankovic will nicht jener neutrale Berichterstatter sein, er scheut sich nicht zu erzählen, wie menschlich nahe es ihm geht, was hier um ihn herum passiert. Und dafür ist man ihm sehr dankbar, in unserer Runde, an diesem Freitagabend, wo wir natürlich auch auf das “Geburtstagskind Israel” angestossen haben. Nach einer ausführlichen Fragerunde entliessen wir Oliver Vrankovic in eine hoffentlich ruhige Nacht in der Seniorenresidenz.

Über Thomas Morvay 311 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

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