Hinwendung – zu was?

Letzte Aktualisierung am 15. September 2023 durch Thomas Morvay

Am Abend des 15. September 2023 beginnt Rosch Haschana, das jüdische Neujahrsfest, und damit die 10 Tage der Umkehr, Teschuwa, die am letzten Tag von Jom Kippur zu Ende gehen. Ein paar persönliche Gedanken dazu.

Es bricht das Jahr 5784 an, ein neuer Anfang, im 76. Jahr des modernen Israel. Als die Proteste gegen die Pläne der israelischen Regierung zu einer „Justizreform“ nicht abebbten, aber allerspätestens als sie die Streichung der Angemessenheits-Klausel am letzten Tag vor der Sommerpause der Knesset Tatsache geworden war, war wohl allen liar geworden, dass Israel auf eine Staatskrise erster Ordnung zusteuert. Die in dieser Woche abgehaltene erste Anhörung in dieser Sache beim Obersten Gericht, bestätigt diese Tendenz. Denn die in den 1950er Jahren als Vernunftslösung eingeführten „Basic Laws“, deren Notwendigkeit sich daraus ergab, dass man sich damals schon nicht auf eine geschriebene Verfassung einigen konnte, erleiden angesichts der aktuellen Entwicklung augenscheinlich Schiffbruch. Die Regierung weigert sich schon im Voraus, eine allfällige Ungültigkeitserklärung der Abstimmung anzuerkennen, zweifelt also die Zuständigkeit des Gerichtes an, über die Gültigkeit von „Grundgesetzen“ zu urteilen.

Seit Monaten wird für oder gegen die Justizreform demonstriert, obschon es eine grössere Schnittmenge gibt, über die zwischen den – man muss dies leider so aussprechen – verfeindeten Fronten grundsätzlich Einigkeit besteht. Zugleich erklären eine grösser werdende Zahl von Reservisten, nicht zu den jährlichen Wiederholungskursen einrücken zu wollen, aus Protest gegen die amtierende Regierung. In einem Land, in der Fragen der Sicherheit und der Landesverteidigung zwar schon immer leidenschaftlich diskutiert worden sind, aber in der Parteienlandschaft von links bis rechts weitgehend Übereinstimmung herrscht, eine gefährliche Entwicklung. Und das ausgerechnet zu einer Zeit, als Geheimdienst und Armeeführung vor der durchaus realistischen Gefahr eines Mehrfronten-Krieges warnen. Hamas und Islamistischer Dschihad im Süden, Hisbollah im Norden rüsten auf.und verfügen bereits über ein – mit iranischem Geld finanzierten Raketenarsenal, das alles bisher Gekannte in den Schatten stellt. Jüngst wurde bekannt, dass unmittelbar hinter dem Golan der Iran eine Luftwaffenbasis und Munitionsdepots errichtet hat.

Auch die Kluft zwischen Israel und der Diaspora ist gewachsen. Sowohl in Europa, wie auch insbesondere in den Vereinigten Staaten, ist seit Jahren nicht nur der antisemitische Judenhass stetig gewachsen. Zugleich melden sich auch immer stärker jüdische Gruppen, ebenso wie traditionell dem jüdischen Staat wohlgesonnen Gruppen zu Wort, und sie äussern in einer Weise Kritik an der israelischen Politik in bislang unbekanntem Ausmass und Vehemenz. Dies wiederum stösst auf immer stärkeres Unverständnis in Israel. Die Gegensätze zur Diaspora, was Israelis zunehmend als Entfremdung sehen, oder gar als unzulässige Einmischung in innerisraelische Angelegenheiten erachten, sind als immer grösser werden erachtet. Sie münden – je nach politischem Couleur – in Forderungen nach Anpassung und Intensivierung der Dialoge, resp. in Aufforderung an die weltweit verstreuten Juden, nach Israel einzuwandern und die bequeme Positionen als Zaungäste – oder noch schlimmer, als Unken – aufzugeben.

Im hebräischen Kalender ist der Monat Nisan noch immer der erste im Jahr. In dessen Mitte, bei Vollmond, wird am (ersten) Sederabend an den Auszug aus Ägypten und die 40-jährige Wanderschaft erinnert. Genau 163 Tage danach ist Rosch Haschana. Es beginnt ein neues Jahr, heuer das Jahr 5784. Teschuwa, im religiösen Sinn als die Umkehr zu Gott verstanden, steht in der Tradition der Hohen Feiertage, mindestens seit der Zeit des Zweiten Tempels in Jerusalem. Es wird jedem Juden dabei die Chance geboten, quasi neu anzufangen. Das beginnt damit, dass die im alten Jahr gemachten Versprechen aufgehoben und für ungültig erklärt – dazu zählt, seit dem Mittelalter und der Inquisition auch die erzwungene Konversion. Er setzt eine intensive Auseinandersetzung mit sich und seinem Glauben voraus, und mündet schliesslich in Jom Kippur, das auch deswegen als Versöhnungsfest gilt.

Mir scheint, aktuell ist diese Beschäftigung mit dem jüdischen Selbstverständnis dringender denn je. Ob man besonders gläubig ist oder nicht, sollte es von uns allen als Chance ergriffen werden. In diesem Sinne, chaverim: shana tova u‘metuka – ein gutes und süsses Jahr!

Über Thomas Morvay 311 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

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