Letzte Aktualisierung am 18. Mai 2021 durch Thomas Morvay
(Basel) – Die beiden Dokumentarfilmer Peter und Susanne Scheiner haben sich dem Thema Vergebung genähert. Anhand einer Reise zu den Siegesfeiern zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Wolgograd, welche eine Gruppe deutscher Christen unternahm und die sie mit der Kamera begleiteten, flossen auch sehr persönliche Gedanken der zwei Nachfahren von Überlebenden der Shoah in die Dokumentation ein. Die Schweizer Premiere des Films fand am 11. Mai 2021 in Basel statt, an die Vorführung schloss sich eine Podiumsdiskussion an.
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Es war 1995, anlässlich des 50. Jahrestages der Schlacht, dass sich eine Gruppe deutscher Christen, zum ersten Mal auf den, von ihnen so bezeichneten, Versöhnungsweg macht. Zwanzig Jahre später wiederholen sie diese Reise nach Wolgograd, das vormals Stalingrad hiess, und unter diesem Namen als eines der Wendepunkte des Zweiten Weltkriegs gilt. Erklärtes Ziel, auch häufiger im Film so benannt, ist die Bitte um Vergebung, das die Nachfahren der Täter äussern, im Bemühen um eine Annäherung von deutschen Bürgern an russische Bürger, an die Nachfahren der Opfer. Die Filmemacher wollen das Fragezeichen im Titel des Filmes verstanden wissen, als das Nachfragen zweier Kinder von Holocaust-Überlebenden. Zwei Menschen, die durch das Jahrhundertverbrechen der Vernichtung des europäischen Judentums, betroffen sind.
Was bedeutet es, wenn Nachfahren von Tätern mit Nachfahren der Opfer zusammenkommen?
Susanne Scheiner, im Intro des Films
Mit dem Hinterfragen verbinden die beiden Filmemacher jedoch keine Wertung, sie brechen nicht den Stab über die Protagonisten, stellen auch niemanden bloss. Sie beleuchten vielmehr, was ihnen auf der Reise aufgefallen war, pointiert und persönlich.
Geradezu programmatisch stellt der Film die Aussage des Initiators beider Reisen, Pfarrer Johannes Scholz, an den Anfang: die Erlangung von Vergebung ist Grundvoraussetzung dafür, dass man – gemeint sind Russen und Deutsche – wieder aufeinander zugehen kann. Schuld auf sich geladen haben demnach die Vorfahren der heutigen Reisenden, und diese Schuld verbleibt auch bei ihnen. Erreicht werden soll aber, dass die heutigen Russen durch eine Geste ihre Bereitschaft dazu signalisieren, mit den heutigen Deutschen neue Ansätze und Wege zu finden.
Wer nicht um Vergebung bittet, wird unweigerlich mit der Schuld seiner Väter identifiziert. Wer um Vergebung bittet, hat die Chance, sich davon zu lösen und Wege der Umkehr zu finden, neue Ansätze zu finden. Das wollen wir.
Pfarrer Hans Scholz, Initiator der Reise, zu seinem Verständnis des Konzeptes der Vergebung
[…]
Die Schuld gehört den Tätern.
Das findet nicht überall uneingeschränkten Anklang, wie auch der Reiseteilnehmer Johannes Czwalina freimütig zugibt, der im baslerischen Riehen beheimatete ehemalige Pfarrer, der Susanne und Peter Scheiner zu dieser Reise eingeladen hatte.
Je mehr ich über das Thema Vergebung nachdenke, desto komplexer erscheint [sie] mir. Es hat aber etwas Faszinierendes an sich.[…]
Johannes Czwalina, Reiseteilnehmer, äussert sich kritisch zum Ansinnen der Bitte um Vergebung
Und jetzt kommen wir wiederum zu den Opfern und sagen, wir haben noch ein schlechtes Gefühl, das wollen wir aber auch noch los werden, könnt ihr uns bitte vergeben? Sodass das ehemalige Opfer die Botschaft gar nicht versteht, die für das Opfer selber befreiend sein könnte: [..] sondern dass das Gefühl aufkommt, […] und jetzt wollen sie uns auch noch, in einem zweiten Akt, um Entschuldigung bitten, uns darum bitten, dass wir sie nun von dem seelischen Schmerz auch noch befreien, durch unsere Verzeihung.
Ablehnend steht auch der Rabbiner der jüdischen Gemeinde Wolgograds dem Konzept gegenüber: man könne nicht über “Vergebung” reden, ohne über den Holocaust zu sprechen. Der Russlandfeldzug war, historisch gesehen, der Krieg um “Lebensraum”, ein Vernichtungskrieg. Es war im Verlauf dieses Feldzugs, dass die “Sondereinsatzgruppen” das osteuropäische Judentum ausgelöscht haben und Teile des westeuropäischen Judentums erst umgesiedelt hatten, als Vorbereitung für deren spätere physische Vernichtung. Es wird wohl keinen einzigen Juden geben, dem angesichts dieser Ungeheuerlichkeiten das Wort Vergebung über die Lippen kommt.
Nein. Ich möchte das nicht. Selbst wenn Shabbat wäre, würde ich nicht wollen, dass jemand bereut. Warum vor mir? Was habe ich mit ihrer Reue zu tun? Für meine Grosseltern war es entsetzlich. Man hat ihnen das Leben zur Hölle gemacht. Soll ich das Recht haben zu vergeben? Dazu habe ich kein Recht. […] Da ist man bei mir an der falschen Adresse. […] Ein ganzes Volk wurde vernichtet. Ich weiss nicht, ob es überhaupt auf dieser Welt eine Busse gibt, die es möglich machen würde, dass die Nazis Vergebung erhielten.
Rabbiner Zalman Yoffe, von der jüdischen Gemeinde in Wolgograd, zum Thema der Vergebung
Faszinierend ist das Bild, das vom deutschen Prinzen Michael zu Salm-Salm gezeichnet wird. Dieser bekennt sich in einem Interview schon früh im Film zu einem sehr problematischen Erbe: einer seiner Vorfahren sei Anführer des ersten Kreuzzuges nach Jerusalem gewesen. Dieser hätte “mit dem Schwert” bekehrt, und das auf wohl besonders grausame Art. Und zu diesem Erbe gehört auch, Jahrhunderte später, sein Vater, der in einem vielleicht “moderneren” Kreuzzug gen Stalingrad gezogen war. Man sieht im Film immer wieder wie der Prinz, vielleicht aus einem inneren Bedürfnis heraus, und häufig den Tränen nahe, sich im Sinne des christlichen Versöhnungsweges erniedrigt, entblösst und Busse tut. Etwa wenn er den aus Autoreifen gefertigten Schuh oder den aus Munitionskartouchen gemachten Fressnapf zeigt, und sich dafür bedankt, dass die Russen seinem Vater – der ja eigentlich ausgezogen war, um jene zu ermorden – zu Essen gegeben haben. Man ist auch unmittelbar dabei, wenn der Prinzvor einer einfachen russidchen Kriegsveteranin auf die Knie fällt und deren Hand küsst. Dafür erhält er Lob von Gennadij, auch er Nachfahre eines Kämpfers in der Hölle von Stalingrad. Diese Umkehr von Ranggefälle bleibt für Gnnadij schier unbegreiflich.
Und irgendwann erklärt Prinz Michael dann – den Vergleich zieht er selber: “wie man das ja auch von vielen Juden weiss” – sein Vater sei nach seiner Rückkehr aus sowjetischer Gefangenschaft nie mehr Zug gefahren. Filmemacherin Susanne Scheiner kommentiert dies im Film – sich “an die geschichtliche Realität” haltend – dass von den Juden, die man in ähnlicher Weise in Viehwaggons gesperrt, nach Auschwitz deportiert hatte, kaum einer die Chance hatte, mit dem Leben davonzukommen. Das ist wohl die höfliche Formulierung dafür, dass sie diesen Vergleich wohl als eine sehr schmerzhafte Grenzüberschreitung empfindet. Peter Scheiner, dessen Vater Überlebender das Konzentrationslager Mauthausen überlebte, erinnert in seinem Kommentar an die, “Todesstiege” genannte 1000-stufige Treppe, als lediglich erste Hürde, auf dem Weg in den fast sicheren Tod, in den Fängen der Vernichtungsmaschinerie der Nazis.
Schade, dass man in der Diskussion, welche sich an die Vorführung anschloss, nicht auch eine weitere Aussage thematisiert hatte: noch eine Vermengung des Russlandfeldzugs mit der Shoah. Es ist nicht klar, was das eine mit dem anderen zu tun hat.
Ich möchte euch Russen von ganzem Herzen um Vergebung bitten, was Mitglieder meiner Familie im Krieg, hier angerichtet haben. Und ich möchte euch danken, für die freundliche Begrüssung. Wir sind schuldig geworden, als Deutsche, nicht nur an den Russen sondern auch an den Juden. Und deswegen möchte ich auch euch, jüdische Brüder und Schwester, um Vergebung bitten.
Prinz Michael zu Salm-Salm, anlässlich des Treffens mit Vertretern der Gebietsverwaltung im Rathaus von Wolfski
Unter der Leitung von Peter Bollag, Projektleiter der Christlich-Jüdischen Projekte CJP, diskutierten nach dem Film mit Susanne Scheiner auch Lukas Kundert, Theologe und Kirchenratspräsident der evangelisch-reformierten Kirche Basel-Stadt, Pfarrer am Basler Münster, mit Promotion über Sühnetheologie und Erik Petry, Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter und stellvertretender Leiter des Zentrums Jüdischer Studien in Basel. Angesprochen auf die doch recht lange Zeit zwischen der Reise und der Fertigstellung des Filmes, sagte sie:
Etwas ist im Film nicht drin: das ist die Beziehung zu den Protagonisten. Ich habe mich sehr gefreut, Michael und Philippa, Prinz und Prinzessin zu Salm-Salm, sowie Rita und Hans Scholz [heute] wieder zu begegnen, und auch Johannes Posth. […] Der Film hat auch auf andere Weise nachgewirkt.
Susanne Scheiner, über die Wirkung des Films nach 6 Jahren seiner Entstehung.
Lukas Kundert erklärte, er danke für den “Film, der so eindrückliche Bilder [und] Eindrücke” transportiere. Er würdigte besonders die “zurückhaltende Wertung”, welche den Protagonisten “auch ein Gesicht erhalten lasse”. Es sei ein “überragender Film”, erklärt Erik Petry, der “zum einen, ein sehr typischer Film” der Scheiners sei, weil “in so vielen Sequenzen so viele Fragen” stelle. Und spricht auch von der “Stakkato-haften Aufarbeitung” des Themas, als eine Abfolge von Szenen und Kommentaren. Auch im Podiumsgespräch nimmt die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Vergebung breiten Raum ein. Kundert bekundet den Protagonisten gegenüber grossen Respekt, nennt die Vergebung ein “ruinöses Konzept” des Neuen Testaments. Auch Petry ist wichtig, die glaubwürdige Ernsthaftigkeit der Protagonisten in den Vordergrund zu stellen, und doch zugleich sich doch auf die Seite von Czwalina und dem Rabbiner zu schlagen. Spannend sodann, wie er an die bekannte Formulierung des israelischen Psychoanalytikers Zvi Rix erinnert, “Auschwitz werden uns die Deutschen nie verzeihen”. Hinter diesem lapidaren Satz stecke ein sehr tiefgeehendes Konzept, das er auch mit seinen Studierenden immer wieder auslotete.
Das letzte Wort im Berichtsteil zur Schweizer Filmpremiere soll wieder einem der Protagonisten des Films gehören:
Der Film, den Ihr gemacht habt, hat seine Thematik [bezogen] aus dem Kontext des Ereignisses, und das ist gut. Aber das Ereignis der Versöhnung hat eine andere Dimension. Nämlich auch die Dimension der Demütigung, des Sich-Erniedrigens vor den Anderen. Von denen man nicht den letzten Rest von Stolz abkaufen möchte, [aber] genau diese Möglichkeit schaffen möchte, sich zu begegnen.
Pfarrer Hans Scholz, im allerersten Statement nach der Podiumsdiskussion
Damit schliesst sich ein Kreis, der auch auf mich als den Berichterstatter den grössten Eindruck machte: mein Vater, Jude in einer für die Zeit typischen assimilierten Familie des Bildungsbürgertums in Budapest, wurde von der ungarischen Armee, welche mit der Wehrmacht an der Ostfront kämpfte verschleppt, als Kanonenfutter und lebendiger Minenräumer vor den eigenen Reihen hergetrieben. Und die Rote Armee, als sie dann zum Gegenangriff überging, nahm die noch übrig gebliebenen Juden gefangen und verschleppte ihn hinter den Ural in einen Steinbruch, wo er 3 Jahre schuftete. Er kehrte 1945, den grössten Teil der Strecke zu Fuss zurücklegend, nach Budapest zurück. Auf einen Diskurs über das Konzept der Vergebung hätte er sich wohl weder mit Deutschen noch mit Russen eingelassen. Wohl genausowenig, wie auch ich oder die beiden Filmemacher, Angehörige der sog. “Zweiten Generation”, uns als Anlaufstelle verstehen würden, für jemand der sich mit der Bitte um Vergebung für die Taten seiner Vorfahren an uns wenden würde.
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