War’s das – oder wie weiter?

7. August 2022, Gaza, Jabalia-Camp: Palästinensische Sicherheitskräfte machen sich ein Bild von den Schäden, nach den israelischen Angriffen auf das Lager. Lizenz: imago/ZUMA ; Copyright: Nidal Alwaheidi

Letzte Aktualisierung am 8. August 2022 durch Thomas Morvay

Jerusalem/Israel – In diesen Minuten ist Berichten zufolge eine von Ägypten ausgehandelte Feuerpause zwischen Israel und der Terrororganisation Palestinian Islamic Jihad (PIJ) in Kraft getretten. Die nächsten Stunden werden zeigen, ob diese hält. Ebenfalls erhoffen sich Beteiligte wie Beobachter Aufschluss darüber, wie die dreitägige, gewalttätige Auseinandersetzung einzuordnen ist. Der Versuch einer ersten Situationsanalyse.

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Während etwas mehr als 48 Stunden war der Warnton der unterschiedlichen Alarm-Apps erneut dominierend, in Israel und weltweit bei den Freunden des jüdischen Staates. Sie verstummten leider auch in den Minuten unmittelbar nach dem Zeitpunkt der angekündigten Waffenruhe nicht ganz. Inzwischen erklärte ein Sprecher von PIJ, es sei “zu früh, um über einen konkreten Zeitpunkt für eine Feuerpause zu reden”. Im Gegensatz dazu meinte Israels Premierminister Yair Lapid, “sämtliche Ziele sind erreicht, es bringt keine Vorteile weiterzumachen”. Unabhängig davon, wie es nun weiter geht, bleiben einige interessante Fakten, auf die zu schauen es sich lohnt.

In Israel ist der “Glaubenskrieg” darüber, ob und wann es sich lohnt, einen Präventivschlag zu führen, so alt wie der Staat selbst, wenn nicht älter. Da ist der Präzedenzfall aus 1967, aber da sind auch die Lehren aus dem Jom-Kippur-Krieg, sechs Jahre später. Im aktuellen Konflikt ergriff Israel die Initiative, erst mit der Verhaftung eines PIJ-Führers im Flüchtlingslager Jenin, aber auch beim ersten Angriff in Gaza selbst, als mit einem gezielten Schlag ein erstes Mitglied der lokalen Führungsriege der Terrororganisation eliminiert wurde. Und Israel liess sich die Initiative zu keinem Zeitpunkt entreissen, die Terroristen waren stets gezwungen zu reagieren, während die israelische Luftwaffe und Artillerie agierten.

Offensichtlich koordiniert waren auch die aus Jerusalem kommenden Verlautbarungen militärischer Stellen und auch der politischen Ebene. Das ist um so bemerkenswerter, wenn man sich die politische Lage vergegenwärtigt: in Israel herrscht eigentlich Wahlkampf, die Tagesgeschäfte sind in den Händen einer geschäftsführenden Regierung, nachdem Premierminister Naftali Bennett die parlamentarische Mehrheit vor knapp sechs Wochen eingebüsst hatte. Das dürfte sich auch auf den Wahlkampf auswirken, denn es ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung, mit welcher Souveränität Yair Lapid sich, der israelischen wie auch der weltweiten Öffentlichkeit vordemonstrierte, dass er alle Fäden der Macht sicher in den Händen hält und einen Waffengang mit den Feinden des Landes führen kann. Wie sich das am Wahltag allenfalls auswirkt, ist freilich eine, zum gegenwärtigen Zeitpunkt, nicht zu beantwortende Frage.

Es wurde stets herausgestrichen – natürlich auch als Teil der psychologischen Kriegsführung, jedoch nicht nur – dass es Israel geschafft hat, die “gesamte lokale Führungsriege” des PIJ auszuschalten. Zugleich war offensichtlich, dass sich die in Gaza regierende Hamas nicht in einen Waffengang hineinziehen liess. Was diese beiden Dinge längerfristig für das Machtgefüge in der Enklave, aber beispielsweise auch in Bezug auf das Verhältnis zur Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) auswirken, werden erst die kommenden Monate zeigen. Man erinnert sich, dass die im vergangenen Jahr angesetzten Wahlen im Hoheitsgebiet der PA durch Präsident Abbas gestoppt wurden, weil er einen Machtverlust befürchtete. Welche Schlüsse ziehen alle diejenigen nun, die sich im Kampf um die Nachfolge des greisen und kranken Abbas in Stellung bringen?

Der Glanz des Raketenabwehrsystems Iron Dome überstrahlt alles: die von Israel präsentierte Erfolgsquote von über 95% ist deutlich höher, als in allen bisherigen Auseinandersetzungen mit Extremisten in Gaza. Andererseits ist es um so bemerkenswerter, als dass die Gegenseite sowohl in Bezug auf Reichweite wie auch Treffsicherheit seit dem letzten Krieg 2014 zugelegt hat. Von überragender Bedeutung auch bezüglich dem, was in militärischer Sprache als die “Projektion” bezeichnet wird: ein derart überlegenes Abwehrsystem übt eine enorme dissuasive Wirkung aus. Das wird man nicht zuletzt in Beirut, aber auch in Teheran zur Kenntnis nehmen müssen, die beide eine grosse Rolle spielen in den “Kriegsspielen” um einen israelischen Angriff auf das iranische Atomprogramm.

Was haben die internationalen “Stakeholder” aus dem Konflikt mitgenommen? Der Iran, zu dessen Klientele PIJ zählt, hiess einerseits einen ranghohen Vertreter des PIJ in Teheran willkommen und präsentierte diesen als Gast der Revolutionsgarden. Iran ist jedoch zugleich in Wien darum bemüht, sich die grösstmöglichen Zugeständnisse bei einer allfälligen Wiederbelebung des Atom-Deals zu sichern. Wenig überraschend in diesem Zusammenhang, in welch eindeutiger Weise Russland auf die Seite der Mullahs und deren Befehlsempfänger in Gaza stellte. Das wirft zugleich auch die Frage auf, wie isoliert der in der Ukraine engagierte Wladimir Putin wirklich ist? Das wird man nicht zuletzt in Wien in den nächsten Tagen und Wochen erkennen.

Dass der US-Botschafter in Jerusalem sich als erster im Gaza-Scharmützel zu Wort gemeldet hatte, konnte nicht wirklich überraschen – alles andere wäre bemerkenswerter gewesen. Auch inhaltlich sagte Tom Nides nichts, was man von ihm nicht erwartet hätte:

Holpriger geriet da der Start des neuen deutschen Botschafters in Israel, dem langjährigen Regierungssprecher in Berlin Steffen Seibert, der für das “traditionell” im Wochenende befindliche Auswärtige Amt in die Bresche sprang. Wir haben dies bereits an anderer Stelle thematisiert. Das von der Grünen-Politikerin Annalena Baerbock verantwortete Ressort schliesslich am Sonntagmittag vernehmen liess, hob sich das dennoch wohltuend ab von dem, was man von ihrem Vorgänger in der Vergangenheit hinnehmen musste: unumwunden klares Benennen des Selbstverteidigungsrechts Israels (NB. trotz Präventivschlag, der durch das von Heiko Maas verantwortete AA ganz bestimmt relativierend ins Feld geführt worden wäre), die Forderung, die Raketenangriffe auf die israelische Zivilbevölkerung sofort zu beenden, werden in Israel wohlwollend zur Kenntnis genommen.

UPDATE 08.08.2022:

Israel hat klargestellt, dass die Freilassung der von ihr festgenommenen Terroristen nicht Teil der vereinbarten Waffenruhe ist. Andererseits besteht Israel nach wie vor auf die Rückgabe der sterblichen Überreste der beiden im Gaza-Krieg von 2014 gefallenen Soldaten Hadar Goldin und Oron Shaul, sowie die Freilassung der verschleppten Israeli Hisham al-Sayid und Abera Mengistu. Insbesondere der Gesundheitszustand von al-Sayed sei – aufgrund von verfügbarem Videomaterial – besorgniserregend, wie eine hochrangige israelische Quelle in der Jerusalem Post zitiert wird.

Nachfolgend auf die vereinbarte Waffenruhe wurde der südliche Grenzübergang Rafah zwischen Gaza und Ägypten geöffnet und für die Lieferung von Treib- und Brennstoffen freigegeben. Der Grenzübergang Erez soll, gemäss Angaben der IDF ebenfalls wieder geöffnet werden, damit palästinensisch-arabische Arbeitskräfte wieder ihrem Broterwerb in Israel nachgehen können. Die Grenzöffnung verzögert sich aufgrund eines Beschusses in den letzten Stunden des Konflikts, gestern Abend.

Über Thomas Morvay 311 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

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