Absage der Parlamentswahlen in Ramallah – Offenbarungseid des Mahmud Abbas?

Mahmoud Abbas, Praesident der Palaestinensischen Behoerde in einer Archivaufnahme aus dem Jahr 2018 Copyright Thomas Koehler; Lizenz imago

Letzte Aktualisierung am 4. Mai 2021 durch Thomas Morvay

(Ramallah) – Am Ende der vergangenen Woche traf ein, was Beobachter bereits seit geraumer Zeit in Aussicht gestellt hatten: der 85-jährige Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) Mahmud Abbas sagte die für den 22. Mai 2021 angesetzten Wahlen zum dysfunktionalen Parlament ab. Die fadenscheinige Begründung, wonach es diese Wahlen nur unter Einbezug des Ostteils von Jerusalem geben könne und Israel dies verunmöglicht hätte, stiess lediglich in Brüssel und und einigen EU-Hauptstädten auf Resonanz. Sie fordern, im Einklang mit den Vereinigten Staaten und auch die Schweiz, baldmöglichst einen neuen Termin anzuberaumen, wobei jedoch diese beiden Letzteren Israel mit keiner Silbe erwähnen.

Der Palästinensische Legislativrat (PLC) ist das Parlament der sog. Palästinensischen Gebiete, erschaffen durch das Interimsabkommen zwischen Israel und der PLO – in erster Linie bekannt unter der Bezeichnung „Oslo II“. Die Legislaturperiode beträgt vier Jahre. Die ersten Parlamentswahlen fanden im Jahr 1996 statt. Die zweite und bisher letzte Wahl von 2006 ergab ein Mehrheitsverhältnis von 8:5 zugunsten extremistischer Vertreter, in erster Linie der heute in Gaza regierenden Hamas, welche entgegen mehrerer, letztlich gescheiterter, Aussöhnungsversuche noch immer die Alternative zu Abbas‘ Fatah-Bewegung darstellt. Doch auch die Fatah ist heute gespalten, und diese Rivalitäten scheinen ebenfalls dazu beigetragen zu haben, dass Abbas den Wahltermin platzen lässt.

Angesichts dieser Entwicklungen mag man in den Brüssel und Berlin, hinter vorgehaltener Hand, vielleicht gar erleichtert sein. Doch davon ist in den offiziellen Verlautbarungen natürlich nichts zu lesen. Richtig ist, wenn sowohl Sen. Josep Borrell, der Eu-Aussenbeauftragte wie auch die Sprecher der Aussenministerien Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Spaniens ihr Bedauern über die Verschiebung der Parlamentswahlen zum Ausdruck bringen, und auf einen möglichst bald vorliegenden neuen Terminplan drängen. Zugleich drängen sie explizit Israel dazu, die Wahlen auch in “Ostjerusalem” zu ermöglichen.

Wir nehmen die Entscheidung des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas, die für den 22. Mai 2021 angesetzten Parlamentswahlen zu verschieben, mit Bedauern zur Kenntnis. Wir sind der festen Überzeugung, dass starke, rechtmäßige, repräsentative und rechenschaftspflichtige demokratische Institutionen nach wie vor der Schlüssel zu Selbstbestimmung und Staatsaufbau in den Palästinensischen Gebieten sowie entscheidend für die Zukunft der Zweistaatenlösung sind. Wir rufen die Palästinensische Behörde auf, möglichst rasch einen neuen Terminplan für die Wahlen vorzulegen. Gemeinsam mit unseren europäischen Partnern sind wir bereit, freie, faire und inklusive Wahlen zu unterstützen.
Wir rufen Israel auf, die Durchführung solcher Wahlen im gesamten Palästinensischen Gebiet einschließlich Ostjerusalems auf der Grundlage bestehender Vereinbarungen zu ermöglichen. Wir ermutigen alle Akteure, konstruktive Schritte in diese Richtung zu unternehmen.

Quelle: Gemeinsame Erklärung der Sprecher der Außenministerien Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Spaniens zur Verschiebung der Wahlen in den Palästinensischen Gebieten, vom 30. April 2021

Auch das US-Aussenministerium äussert sich in diesem Sinne. Im Rahmen einer Telefonkonferenz-Schaltung liess sich jedoch der Sprecher des US-Aussenamtes nicht zu einer Aufforderung an Israel drängen:

QUESTION:  […] Now, look, Palestinian Jerusalemites to vote is something that the United States basically ironed out and helped work out – the Clinton administration, then the Bush administration.  So why can’t you call on the Israelis to allow Palestinian Jerusalemites to vote, as the Bush administration had and so on, as the European Union?  […]
MS PORTER:  Thank you, Said.  Well, I certainly don’t want to comment on the posture of previous administrations and their decisions, but I’d be happy to repeat again that the democratic process and the composition of the democratic elections – excuse me – is a matter for the Palestinian people, and it’s a matter of their leadership to determine.

Quelle: Department Press Briefing, US Department of State, April 30, 2021

Weil die Unterschiede zwischen den Positionen der EU und der Vereinigten Staaten so deutlich zutage treten, lohnt es sich diese genauer anzuschauen. Es ist zunächst daran zu erinnern, dass die Vorgänger-Administration in Washington eine dezidiert pro-Israel-Haltung an den Tag legte, was sich nebst der Verlegung der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem am deutlichsten daran zeigte, dass bei der Verkündung dieser Entscheidung auch die Unterscheidung in Ost- und West-Jerusalem hinfällig geworden ist: in der gesamter Rede sprach der damalige US-Präsident Trump von Jerusalem – als Israels Hauptstadt, von den Orten, wo Juden, Christen und Muslime frei beten können (übrigens, allesamt im Ostteil der Stadt gelegen). Und im Rahmen seines Bestätigungsverfahrens im Senat versicherte der heutige US-Aussenminister explizit, daran werde sich auch unter einem Präsidenten Biden nichts ändern.

Entgegen dieser Haltung, beharren die EU-Aussenpolitiker in Brüssel, und ganz besonders auch das deutsche Auswärtige Amt darauf, dass “Ost-Jerusalem” besetztes palästinensisches Gebiet sei. Sie berufen sich auf UN-Resolutionen aus der Vergangenheit, unter denen zuletzt die Entschliessung 2334 des Sicherheitsrates aus Dezember 2016, auch das Jüdische Viertel Jerusalems zum besetzten Gebiet erklärt hat. Sie war zustande gekommen, wie auch alle übrigen einschlägigen Resolutionen, sowohl der Generalversammlung wie auch des Sicherheitsrates, aufgrund der vorherrschenden politischen Verhältnisse. Über ihre völkerrechtliche Bedeutung lässt sich streiten, aber diese ist letztlich nicht entscheidend. Das mag man als bedauerlich empfinden, stellt es doch die Vereinten Nationen als irrelevant dar – in letzter Konsequenz ist auch das der Wille ihrer Mitglieder, oder zumindest der kleinste gemeinsame Nenner, auf die sich diese einigen können. Und genau deswegen war es für Präsident Trump wichtig festzuhalten, dass seine Entscheidung, Jerusalem als Hauptstadt Israels zu erkennen und die Botschaft der Vereinigten Staaten dorthin zu verlegen, keine Präjudizierung dessen sei, was Israeli und Palästinenser eines Tages zusammen entscheiden werden.

Derweil veröffentlicht die Organisation “Committee for Accuracy in Middle East Reporting and Analysis” (Camera) eine Zusammenstellung, nach der die Medien irreführend über die Wahlen und den sich aus Oslo ergebenden Verpflichtungen für Israel berichteten. So würde nur in einem erläuternden Grundsatzbeitrag von Associated Press darauf hingewiesen, dass in speziell bezeichneten Postämtern in der Stadt symbolisch “eine Anzahl Palästinenser” abstimmen könne, während die übrigen am Stadtrand selbstverständlich ohne israelische Zustimmung an den Wahlen tilnehmen könnten. In den bisher abgehaltenen Urnengängen waren dies etwa 6-6’500 Stimmberechtigte.

A number of Palestinians of Jerusalem will vote in the elections through services rendered in post offices in Jerusalem, in accordance with the capacity of such post offices.
The relevant post offices for the purposes of these arrangements shall be:
(1) Salah-a-din post office;
(2) Jaffa Gate post office;
(3) Shuafat post office;
(4) Beit Hanina post office;
(5) Mount of Olives post office;

Quelle: Interim Agreement on the West Bank and Gaza Strip, Article VI – Election Arrangements Concerning Jerusalem

Demgegenüber schrieb zB. die New York Times, in einem Beitrag von Patrick Kingsley, in verallgemeinernder Form und in irreführender Weise, Israel wäre verpflichtet, palästinensische Wahlen in Jerusalem zuzulassen:

Under the interim agreements signed in the 1990s between Israeli and Palestinian leaders known as the Oslo Accords, the Israeli government is obliged to allow Palestinian elections in East Jerusalem.

Quelle: Palestinian Vote Delayed, Prolonging Split for West Bank and Gaza, New York Times, April 29, 2021

Ebenfalls wenig Erwähnung fände, so Camera, dass sich unter den rivalisierenden Listen der Parlamentswahl nicht nur Vertreter der Hamas befänden – die Gruppierung wird nicht nur von den Vereinigten Staaten als terroristisch eingestuft – aber auch interne Rivalen des greisen Präsidenten der PA, so etwa der aus Gaza exilierte und von Abbas entmachtete Mohamed Dahlan, oder der in einem israelischen Gefängnis seine Strafe wegen Terroranschlägen verbüssende Marwan Barghouti. Die Oslo Accords stipulierten jedoch eindeutig:

The nomination of any candidates, parties or coalitions will be refused, and such nomination or registration once made will be canceled, if such candidates, parties or coalitions:

1. commit or advocate racism; or
2. pursue the implementation of their aims by unlawful or non-democratic means.

Quelle: Interim Agreement, Art. III, lit. 2

Unberücksichtigt ist in diesem Argument jedoch die Festlegung eines vorangehenden Punktes, dass von der Eintragung ins Wahlregister nur Personen disqualifiziert sind, welche durch ein Urteil eines palästinensischen Gerichts, für die Dauer der Verbüssung dieses Urteils vom aktiven oder passiven Wahlrecht ausgeschlossen sind:

The following persons will be disqualified from being entered on the Electoral Register:

1. any person deprived of the right to vote by judicial sentence, while that sentence is in force;
2. any person declared incapable by judicial decision; […]

Quelle: Interim Agreement, Art. II, lit. k

Schliesslich verweist der Beitrag von Camera auf eine Untersuchung des renommierten “Institute for National Security Studies” (INSS) an der Universität Tel Aviv. Darin wird auf zwei strategische Entscheide von Abbas hingewiesen, welche dieser zum Zeitpunkt der Verkündigung der Wahlen gefasst haben soll:

To ensure a response to every possible development, Abbas, two days before issuing the election order, took two far-reaching steps. One is a reform in the legal system, namely, the establishment of an independent administrative court, which is subordinate directly to him. This ostensibly allows him to take a wide range of actions, including the dissolution of parliament, the postponement of elections, and even their abolition, as well as imposing restrictions on civil servants seeking election. The second step is a change in the law stating that this is no longer an election for the Palestinian Authority but for the State of Palestine, that is, for the President and the Legislative Council of the State of Palestine. It also repeals the stipulation in the 2007 law, after the Hamas victory in 2006, whereby every candidate in the election must accept the obligations assumed by the PLO. The first move angered Palestinian jurists and publicists because it harms the courts, and because of the many powers Abbas assumed for himself. The second, which in practical terms means the annulment of the Oslo Accords and the possibility of nominating organizations that do not recognize the PLO, oppose Israel’s policy, and deny Israel’s existence, did not evoke much reaction.

Quelle: Palestinian Elections: Gamble, Potential or Political Maneuver?, INSS Insight No. 1435, February 4, 2021

Die Autoren des INSS-Berichtes diskutieren einerseits die Frage, inwieweit die “Reform des Rechtssystems, durch die Errichtung eines Administrativ-Gerichtes”, die schwindende Macht der Führungsriege um Abbas stärken soll. Zum zweiten verweisen sie auf eine semantische Anpassung, wonach die anberaumten Wahlen nunmehr nicht für Organe der PA erfolgen, aber für jene eines “Staates Palästina”. Dieser Schritt, so die Verfasser der Studie, annullierte auf der praktischen Ebene die Oslo Verträge, da es die Kandidatur durch Kräfte ermöglicht, welche – in letzter Konsequenz – die Führungsrolle der PLO nicht anerkannten und das Existenzrecht Israels ablehnten. Es wird bemängelt, dass diese Massnahme kein grösseres Echo ausgelöst hat.

Was für Absichten verfolgt Abbas, fragen sich die Autoren. Und antworten, indem sie wiederum 2 Argumente einführen: zum einen wird spekuliert, Abbas könnte damit den Weg zurück zu einer Zusammenarbeit mit der neuen US-Administration unter Präsident Biden ebnen, und zum anderen aber auch eine Zusammenarbeit mit der Hamas Legitimation verleihen. Letzteres aber möglicherweise nur als Druckmittel, um Israel zu zwingen, an den Verhandlungstisch zurück zu kehren. Dann hätte Abbas von Anfang an einkalkuliert, dass er die Wahlen kurzfristig annulliert.

Dass dieses mehrdimensionale Schachbrett ein realistischeres Abbild der Wirklichkeit ist, als die vereinfachende Darstellung in vielen Medien, erscheint beinahe als zwingend logisch, folgt man der Argumentation von Camera. Zugleich wird auch offenbar, in welche unmögliche Lage sich Abbas in der jüngeren Vergangenheit hinein manövriert hat. Und wie komplex es werden könnte, damit er und seine “alte Garde” aus dem selbst entworfenen Labyrinth heraus finden.

Über Thomas Morvay 311 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

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