Es heulen wieder die Sirenen

Nach einer Situationsbesprechung trat Premierminister Yair Lapid am Abend des 5. August 2022 vor die Presse. Dabei richtete er sich auch an die internationalen Medien.(Lizenz: imago/ZUMAap3_ 20220805_zaf_ap3_162 Copyright: GPO

Letzte Aktualisierung am 8. August 2022 durch Thomas Morvay

Jerusalem – Israel hat heute Abend – nach tagelangen Warten auf eine Reaktion von Palästinensisch-Islamistischen Jihad (PIJ), auf die Verhaftung von deren ranghöchsten Kommandanten in Judäa und Samaria – in einem Präventivschlag einen der führenden Köpfe der Terrororganisation in Gaza gezielt ausgeschaltet. Die oberste zivile und militärische Führung Israels hielt danach eine Situationsbesprechung in Kirya, in Tel Aviv ab. Anschliessend äusserte sich der Regierungschef vor der Presse.

Letzte Aktualisierung: [last-modified]

Die Spannungen haben seit Tagen zugenommen, als Israel auf eine Reaktion wartete. Mit der Verhaftung am vergangenen Montagabend des höchsten Rädelsführer der von Iran gesteuerten PIJ in Judäa und Samaria im Flüchtlingslager Jenin, den die israelischen Sicherheitskräfte als Bassem Saadi identifizierten, begann die Zeit des Wartens auf eine Reaktion. Diesem, und der daraus resultierenden Anspannung in der Bevölkerung entlang der Grenze zum “Pulverfass” Gazastreifen, setzte nun die israelische Armee ein Ende, mit der Durchführung eines Präventivschlags. Dabei nahm sie gezielt den Anführer des PIJ ins Visier, der in einem gezielten Angriff auf seine Wohnung in Gaza ums Leben kam.

Es dauerte mehrere Stunden, bis PIJ eine Antwort fand und mit Raketenbeschuss reagierte. Kurz vor 21 Uhr Ortszeit ertönten in den Ortschaften Nahe Gaza die Alarm-Sirenen, es kamen auch Meldungen aus dem Tel Aviver Vorort Bat Jam sowie aus Rishon LeZion. Zu dieser Zeit hatte die zivile und militärische Führung des Landes bereits eine Standortbestimmung vorgenommen, und Premierminister Yair Lapid und Verteidigungsminister Benny Gantz traten vor die Presse. Hier die Ansprache von PM Lapid auf Englisch, wie sie von seinem Büro verbreitet worden ist:

Approximately four hours ago, the Israel Defense Forces – in cooperation with the Israel Security Agency – struck Islamic Jihad targets in Gaza. Among those killed were Taysir al-Jabari, one of the two most senior commanders in Islamic Jihad, as well as a cell preparing to launch an anti-tank missile attack against Israel.
The directive the security forces received from us was clear: Israel will not sit idly by when there are those who are trying to harm its civilians. This government has a zero tolerance policy for any attempted attacks – of any kind – from Gaza towards Israeli territory.
Terrorist organizations will not set the agenda in the area adjacent to Gaza, we will not tolerate any threat against our civilians. I thank Defense Minister Benny Gantz, the IDF and its commanders led by Chief of General Staff, Lt. Gen. Aviv Kohavi, and the ISA led by Ronen Bar, for the quality of their intelligence and for their precise execution.
At the same time, we won’t accept any ultimatums regarding the operations of the IDF and the security forces – including on other fronts. Everyone who needs to be arrested – will be arrested. Any attempt to harm civilians or soldiers will be met with a harsh response.
Today’s activity in Gaza was against concrete threats which disrupted daily routine in southern Israel. Israel isn’t interested in a wider conflict in Gaza, but will not shy away from one either.
I call on everyone to obey directives in the coming days. I have faith in the Israeli public, and I’m sure they will give full backing to our security establishment. However long it may take — we will eliminate the threat to our citizens.
The people of Israel are strong, they understand the importance of deterrence, they stand with the residents of the south. Our security forces are prepared with a set of powerful responses to any attack.
We will face the enemy with strength, together.
A word for the international media:
Israel carried out a precise counter-terror operation against an immediate threat.
Our fight is not with the people of Gaza.
Islamic Jihad is an Iranian proxy that wants to destroy the State of Israel and kill innocent Israelis. The head of Islamic Jihad is in Tehran as we speak.
We will do whatever it takes to defend our people.

Quelle: Prime Minister’s Office, Jerusalem/Israel

Die Operation “Breaking Dawn” (lose als “Tagesanbruch” zu übersetzen; Anm. der Red.) wird nach israelischen Angaben etwa eine Woche dauern. Aus dem Gazastreifen wurden bisher rund 150 Geschosse, die israelische Luftwaffe flog mehrere Angriffswellen und die Artillerie beschoss mehrere Positionen. Insgesamt 25’000 Reservisten wurden einberufen – die zivilen, wirtschaftlichen Kosten des Konflikts, die allzu häufig von der internationalen Öffentlichkeit unbeachtet bleiben.

In ersten – vorhersehbaren – internationalen Reaktionen riefen der amerikanische Botschafter in Israel Tom Nides und der UN-Sonderberichterstatter Tor Wennesland “alle Seiten” zur Zurückhaltung auf. Letzterer hatte auch die Familie des verhafteten Terroristenführers in Jenin besucht. Ebenfalls erwartungsgemäss, lässt sich die EU mit einer ersten Reaktion noch Zeit. Eine besondere Position nimmt der neue designierte Botschafter Deutschlands Steffen Seibert ein, dessen eigenartig nichtssagend gehaltene Wortmeldung nur damit zu erklären ist, dass er vermutlich sein Beglaubigungsschreiben noch nicht überreicht hat:

UPDATE 07.08.2022

Nach eigenen Angaben hat die israelische Armee seit Beginn der Operation die gesamte Führungsriege des PIJ ausgeschaltet. Darüber hinaus wird in den besetzten Gebieten – vermutlich in Kooperation mit den Sicherheitskräften der Palästinensischer Autonomiebehörde, worüber man verständlicherweise öffentlich nicht spricht – die Verhaftungswelle fortgesetzt, welche als Auslöser der aktuellen Auseinandersetzungen gilt. Diese beiden Begebenehiten müssen den Verantwortlichen unter den mit Israel verfeindeten Gruppen im In- und Ausland erhebliches Kopfzerbrechen bereiten, verfügt doch Israel augenscheinlich über zeitnahe und qualitativ ausgezeichnete Aufklärungsinformationen. Erklärt sich damit gar auch die auffällig zurückhaltende Positionierung der Rivalen – Hamas im Gazastreifen, PA in den Autonomiegebieten.

Konkret zu Wort gemeldet hat sich bisher einzig die im Libanon aktive, an der Regierungsverantwortung beteiligte Hizbollah, dessen Führer Nasrallah sich seit Jahren in vermutlich täglich wechselnden, gesicherten Bunkern versteckt hält, um am Leben zu bleiben. Was die politische Führung des PIJ betrifft: sie halten sich seit Jahr und Tag im Ausland auf. Einer ihrer Mitglieder wurde gestern erst in iranischen Medien gezeigt, der sich mit dem Führer der Iranischen Revolutionsgarden austauscht:

Die Militärführung in Israel hat gestern, ebenfalls über die Sozialen Medien, ausdrücklich auch diesen Teil der Führungsriege angesprochen, und sehr konkret über Kenntnisse von geeigneten Zielen etwa in Syrien und Libanon gesprochen. Selbst wenn dies nur Teil der psychologischen Kriegsführung ist, und die Durchführung von Anschlägen sich als nicht durchführbar erweisen sollte, ist es ein weiteres bemerkenswertes Detail.

Am anderen Ende des Spektrums bleibt ein Raketenalarm von heute Morgen, ca. um 9 Uhr, in der Region Jerusalem, erwähnenswert. Wenn auich bisher eine konkrete Bestätigung einer Bedrohung fehlt, ist leider nicht auszuschliessen, dass diese Bedrohung sehr real ist. Die Feinde Israels haben – aller Wahrscheinlichkeit nach dank der iranischen Unterstützung – sowohl Reichweite wie auch Qualität der abgeschossenen Raketen, signifikant verbessert. Zum Glück funktioniert das Abwehrsystem Iron Dome sehr zuverlässig. Andererseits ist nach wie vor die Zahl – das IDF spricht von einer Grössenordnung von bis zu einem Drittel aller Geschosse – von “Rohrkrepierern”, also Flugkörpern, die innerhalb des Gazastreifens landen, sehr gross. Einem solchen misslungenen Abschuss sind gestern Abend 5 Kinder zum Opfer gefallen. PIJ, und auch das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium, sprachen hingegen von einem israelischen Angriff. Öffentlich gemachtes Filmmaterial allerdings stützt die Aussagen Israels. Wie immer, ist es für Aussenstehende schwierig, den Wahrheitsgehalt solcher Verlautbarungen zu überprüfen.

Das Berliner Auswärtige Amt brauchte zwei Tage, um eine Reaktion zu veröffentlichen. Im Vergleich zu früheren Verlautbarungen zu Ereignissen in der Region fällt auf, wie deutlich das Recht auf Selbstverteidigung und -schutz ist. Frühere Reaktionen, insbesondere in den Jahren der Grossen Koalition, als das AA in sozialdemokratischer Hand war, hatten stets versucht, eine Äquidistanz zu den verfeindeten Parteien herzustellen. Andererseits kommt man bei der aktuellen Meldung nicht umhin festzustellen, dass sie, in Teilen, eine 1:1 Kopie der Äusserungen aus Brüssel und sogar Moskau ist. Besonders letzteres dürfte nicht sein – zumal Berlin sich am Ende der Reihe von Stellungnahmen befindet! Die Augenbrauen hochschnellen lässt insbesondere der Hinweis auf die “Verhältnismässigkeit”, eine Zumutung angesichts der Präzisionsschläge der israelischen Verteidigungs-Streitkräfte, als Antwort auf sehr konkrete Bedrohungen: dem Bombasrdement der israelischen Zivilbevölkerung aus dem Gazastreifen trat das IDF, in den Präventivschlägen wie auch den Reaktionen auf den Raketenbeschuss, mit fast schon chirurgisch präzise geführten Gegenschlägen entgegen. Der Hinweis auf “Verhältnismässigkeit” erscheint dabei absolut fehl am Platz!

Stellungnahme des Auswärtigen Amtes in Berlin, 7.08.2022
Verlautbarung des Aussenministeriums in Moskau, zitiert vom israelischen TV-Sender i24news am 6.08.2022
Stellungnahme des Pressesprechers der Europäischen Union, Peter Stano am 6.08.2022

Am frühen Nachmittag gibt es Hinweise, dass Israel einer humanitären Waffenruhe ab 1900 Uhr GMT (21:00 MESZ/22:00 IDT) zugestimmt hat. Eine Antwort der Dschihadisten steht noch aus.

Erneut heftiger Beschuss grösserer Agglomerationen, wie Be’er Sheba, und auch in Zentral-Israel, etwa Rishon LeZion. In der bizarren Logik der Terroristen kann genau dies der deutliche Hinweis auf die Waffenstillstandsbemühungen, bzw. für den enormen Druck sein, den Ägypten, aber auch andere Gruppierungen im Gazastreifen auf PIJ ausüben. Oder es ist der verzweifelte Versuch, einen irgendwie gearteten “Erfolg” zu erzielen, bevor sie in eine Waffenruhe einwilligen.

Reuters vermeldet eine angeblich vereinbarte Waffenruhe ab 20 Uhr Lokalzeit in Israel (1700 GMT):

Der ausgezeichnet vernetzte und gewöhnlich gut unterrichtete, arabisch-israelische Journalist Khaled Abu Thomaeh – er schreibt für die Jerusalem Post, und ist ein aktiver Teilnehmer auf Twitter – veröffentlichte am Montag ein Plakat mit den 12 getöteten Mitgliedern des PIJ in Gaza. Manche dieser Männer sehen auf den Bildern sehr jung aus. Auch das ist eine der Realitäten dieses Konflikts: die Verblendung junger Menbschen, die ihr eigenes Leben weniger schätzen, als die Aussicht, als “Märtyrer” für die “Sache” zu sterben.

Derweil wurde auch die Statistik des dreitägigen Konflikts durch die israelischen Streitkräfte bekannt gegeben. Die nackten Zahle nalleine sind schon eindrücklich. Etwas verwirrend mag erscheinen, dass das IDF von einer 96%-gen Erfolgsquote spricht, wenn zugleich nur etwa ein gutes Srittel der auf Israel abgefeuerten Geschosse, als von Iron Dome abgefangen identifiziert wird. Eine Erklärung dafür ist, dass die Mehrzahl der Wurfgeschosse auf offenes Gelände fiel und kene direkte Bedrohug für Menschen darstellte. Dennoch ist es ein zentrales Element der Abwehr die Identifikation, von welchen Raketen eine direkte Bedrohung ausgeht. Von daher dürfen die anderen richtigerweise ebenfalls zur Erfolgsquote gezählt werden.

Über Thomas Morvay 326 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*