Sind wir wirklich so abgestumpft?

14. Januar 2024 - Solidaritätskundgebung in London: Tausende versammeln sich an Trafalgar Square, um an die Geiseln der Hamas zu erinnern! 100 Tage, was für ein trauriges "Jubiläum"! (Lizent imago/Zuma; Copyright: Thomas Krych)

Letzte Aktualisierung am 15. Januar 2024 durch Thomas Morvay

Es ist ein trauriges Jubiläum: der 7. Oktober 20233 liegt nun 100 Tage in der Vergangenheit. Das grösste Massaker an Juden, an israelischen Kindern, Frauen , Greisen. Noch immer sind über 130 Menschen in der Gefangenschaft der Hamas, vermutlich im Tunnelsystem von Khan Junis, wo sie als Schutzschilder der militärischen und politischen Führung dienen. Es ist jedoch erstaunlich still geworden um sie, einzig der abstruse Zirkus in Den Haag, angezettelt durch Judenhassern, durchbricht die Lethargie. Zumindest ausserhalb Israels ist das die vorherrschende Stimmung.

Das Bild des süssen Babies Kfir Bibas, der in Gefangenschaft seinen ersten Geburtstag begehen muss, ist zwar nach wie vor in den Sozialen Medien und an allen, inzwischen ziemlich ritualisierten Demonstration präsent. Noch immer wird auch Noa Argamani festgehalten, deren Entführung längst medial ausgeschlachtet worden ist: ihre panischen Schreie in den Momenten der Entführung sind zu einem Sinnbild des Irrsinns geworden. Gestern erst hat die Hamas ein neues Video veröffentlicht, in dem sie Neuigkeiten zu ihr ankündigt – was muss das für eine schmerzliche Erfahrung für ihre Eltern sein. Doch die breite Öffentlichkeit nimmt es bestenfalls achselzuckend hin – und geht zur Tagesordnung über, zu den erneut ausgebrochenen Vulkanen in Island, den ersten Primärwahlen in den Vereinigten Staaten.

Die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte sind noch immer in Gaza, sie jagen Terroristen, sie sprengen Tunnels. Von den über 300’000 mobilisierten Soldaten sind inzwischen etliche wieder entlassen. Das ist anders ja gar nicht möglich, ihr Fehlen in der Wirtschaft verursacht immense Kosten, wohl mehr als ihr aktiver Kriegsdienst. Die Judenhasser haben sie längst zur Zielscheibe ihrer perversen Propaganda gemacht, sie verführten Südafrika dazu, den jüdischen Staat vor dem internationalen Strafgerichtshof in Den Haag des Genozids zu beschuldigen. Ein erstes öffentliches Hearing brachte einen Reigen voon Juristen ins Scheinwerfrelicht, die zwar eloquent ihre Argumente vortrugen. Zugleich war jedoch die kolonialistische Vergangenheit des deutschen Kaiserreichs medial mehr ausgeschlachtet worden, bloss weil die Bundesregierung erklärt hatte, es dürfe keinen Zirkus mit dem völkerrechtlich geachteten Begriff geben.

Verblasst ist auch das Bild der abgeschlachteten Shani Louk, die man zuletzt mit obszön verdrehten Gliedern auf der Ladefläche eines Pickups sah, oder der verletzten jungen Friedensaktivistin Naama Levy, die aus dem Kibbutz Nahal Oz entführt hatte, und deren Mutter ernsthaft an Krebs erkrankt ist, wahrscheinlich sterben wird, bevor ihre Tochter zurückkehrt. Falls sie zurückkehrt, ob lebend oder tot, darüber mag man gar nicht spekulieren. Dass die Frauenrechtsorganisationen sich wochenlang in ohrenbetäubendes Schweigen zur dokumentierten sexualisierten Gewalt gehüllt haben – die gleichen Organisationen, die so lautstark in der MeToo-Hysterie auf blosses Hörensagen hin auf “toxische Männlichkeit” gestürzt hatten, haben gar in Zweifel gezogen, dass sich die Taten wirklich ereignet haben! Daran erinnerte am vergangenen Samstag beispielsweise unsere gute Freundin Gabriela Schlesiger von der Deutsch-Israelischen Gesellschaft in Freiburg i. Br. mit bewegenden Worten.

Und zurückzuweisen sind schliesslich die Vorwürfe und Beschuldigungen an die Adresse der Vereinigten Staaten und Grossbritannien, welche als Reaktion auf die iranische Bedrohung der freien Schifffahrt erfolgte – durch ihre Handlanger, den Houthi-Rebellen des Yemen – ihr Handeln müsste zu einer gefährlichen Eskalation führen. Die Kritiker scheuten sich nicht, die Gefahr eines Weltkrieges herauf zu beschwören, ein Vorwurf, der bereits erhoben wurde, als Israel in Gaza Bodentruppen einsetzte. Es ist die üblich gewordene Täter-Opfer-Umkehr, die Israel nur zur Genüge kennt: nachrichtenwürdig ist nicht der Angriff auf Juden, aber deren Reaktion. Häufig ohne, oder bestenfalls beiläufig, den vorangegangenen Angriff zu thematisieren.

Es ist nachgerade bezeichnend, dass die Jüdische Allgemeine einen vor wenigen Tagen in Ha’aretz erschienenen Beitrag aufgreift, welche hinterfragt, ob denn die Hamas militärisch besiegt werden könne. Dass ausgerechnet das auflagenstärkste Publikationsorgan der Juden, die Hauszeitung des Zentralrats der Juden in Deutschland die Frage im Zusammenhang mit der runden Zahl aufstellt, ist ein Skandal. Wenngleich ganz typisch für den vorauseilenden Gehorsam, der für diese Organisation und wohl auch für weite Teile des Diaspora-Judentums in Europa “identitätsstiftend” geworden ist. Auf diese Weise kann man jüdisches Leben bestimmt nicht sicherer machen. Eher im Gegenteil!

Über Thomas Morvay 311 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

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