Europa weiter im Abseits – wirkungsloser Protest um Giv’at haMatos

Seit Jahrzehnten leben hier v.a. äthiopische und russische Immigranten in vorgefertigten Baracken. Nun ist der Planungsprozess für dauerhafte Behausungen eröffnet worden. Copyright: Nir Alon; Lizenz: Web

Letzte Aktualisierung am 20. November 2020 durch Thomas Morvay

(Jerusalem/Israel) – Zu Beginn der neuen Arbeitswoche in Israel eröffnet die Publikation des sog. “Tender Booklet”, den Planungsprozess von 1’257 Wohneinheiten in Giv’At haMatos. Wenige Stunden später liess sich die Europäische Union mit einer Stellungnahme vernehmen, und ihre Repräsentanten besuchten das Gebiet bereits am Montag. Dass sie dort von “Im Tirtzu” empfangen wurden, ist für die Auseinandersetzung um dieses Projekt charakteristisch. Auch das deutsche Auswärtige Amt meldete sich am Montag zu Wort.

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Die besondere Umstrittenheit von Besiedlungen wie Giv’at haMatos gründet auf den Umstand, dass diese Gebiete zwischen der sog. Grünen Linie (Waffenstillstandslinien am Ende des Unabhängigkeitskrieges von 1949) und den zu Beginn des 21. Jahrhunderts errichteten Sperranlagen liegen. Während der Internationale Gerichtshof die Errichtung der Sperranlagen, in einem Gutachten von 2004, als völkerechtswidrig eingestuft hat, was manche israelische und besonders europäische Nicht-Regierungs-Organisationen übernommen haben, wird dies von anderen durchaus kritisch beurteilt. In diesem Zusammenhang ist etwa die Meinung des israelischen Völkerrechtlers Robbie Sabel anzuführen, der insbesondere die Ausweitung des Begriffs “besetztes palästinensisches Gebiet” auf den Ostteil von Jerusalem bemängelt, besonders in Bezug und mit Blick auf das Jüdische Viertel der Altstadt, dessen inherente, jüdische Geschichte wohl unbestritten ist. Ebenfalls unbestritten: unabhängig davon, was die juristische Sicht sein mag, die Sperranlage beendete die Terrorangriffe aus den umstrittenen Gebiete, welche auf dem Höhepunkt der Zweiten Intifada zu traurigem Alltag geworden waren.

In seiner Erklärung von Sonntag mittag erklärt nun Josep Borrell, der Hohe Vertreter der EU für Aussen- und Sicherheitspolitik, er sei “zutiefst besorgt” (deeply worried): jede Bautätigkeit an diesem Ort füge der Aussicht auf Errichtung eines Staates Palästina ernste Schäden zu. Die Möglichkeiten einer verhandelten Zwei-Staaten-Lösung “im Einklang mit den international vereinbarten Parametern und mit Jerusalem auf Hauptstadt zweier Staaten” würden damit schwinden. Die Regierung Israels müsse “Weitsicht und Verantwortungsbewusstsein” an den Tag legen, und die in diesen kritischen Momenten getroffenen Entscheidungen zurücknehmen.

Neu ist dies alles nicht, und Sr. Borrell verweist auch darauf, dass die EU wiederholt Israel aufgefordert hat, alle Besiedlungstätigkeit zu beenden und alle, seit März 2001 errichteten, Aussenposten abzubrechen – wie im Roadmap des Nahostquartetts vereinbart. Doch, auch Sr. Borrell dürfte keine Antwort auf die berühmte Frage von Ariel Sharon haben, mit der dieser den im Roadmap geforderten Siedlungsstopp zurückgewiesen hatte. Das Roadmap mit dem Ende der Präsidentschaft von George W. Bush untergegangen, die EU verfolgt hier eine Fata Morgana: 2008 hat auch Mahmoud Abbas die sehr weitreichenden Konzessionen Israels ausgeschlagen.

Our finest youth live there. They are already the third generation, contributing to the state and serving in elite army units. They return home and get married, so then they can’t build a house and have children?

Frage des israelischen Regierungschef Ariel Sharon, lt. Paul Reynolds für BBC News, 12. März 2003

“Grosse Sorge”, angesichts des “Bau[s] der Siedlung Givat Hamatos in Ost-Jerusalem”, erfasst auch das deutsche Auswärtige Amt (AA), die Bekanntgabe sei “das falsche Signal zur falschen Zeit”. Es hofft und erwartet, “dass die israelische Regierung ihr Bekenntnis zur Zwei-Staaten-Lösung erneuert und durch praktische Schritte untermauert”. Und ergänzt, sie hätte diese “Haltung haben wir in zahlreichen Gesprächen – auch gemeinsam mit unseren europäischen Partnern – gegenüber der israelischen Regierung immer wieder unterstrichen”. Mehr beleidigte Leberwurst geht nicht! Dennoch: das kann man auch anders sehen.

Das Auswärtige Amt bezeichnet in diesem Zusammenhang die “völkerrechtliche Position der Bundesregierung zum Nahostkonflikt [als – die Redaktion] unverändert”. Hierzu hört man aus dem Azuswärtigen Amt:

Demnach ist ein verhandeltes Friedensabkommen zwischen Israel und den Palästinensern Voraussetzung für einen handlungs- und lebensfähigen Staat. Gleiches gilt für die Anerkennung durch Deutschland. Israel hat im Rahmen der Verhandlungen der Oslo-Abkommen die PLO als legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes anerkannt. Aus diesen zwischen den Parteien vereinbarten Oslo-Abkommen ging unter anderem die Palästinensische Behörde hervor.

Schriftliche Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 20.11.2020 18:23 Uhr

Die Bundesregierung unterhält in Ramallah ein “Vertretungsbüro”, es versteht sich von selbst, dass sie das Gespräch mit der PA pflegt. Es bleibt zu hoffen, dass sie dabei die aktuelle Realität – nämlich die regionale Aussöhnung unter Förderung einer wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit, kurz mit der Formel “Frieden für Frieden” umrissen – den “Palästinensern” vermittelt und nicht etwa diese ermutigt, am überholten Oslo-Prozess, mit der Formel “Land für Frieden”, festzuhalten.

Entgegen den Ausführungen des AA liegt Giv’at haMatos nicht in “Ost-Jerusalem”, das Gebiet grenzt an den Kibbutz Ramat Rachel und den gehobenen Viertel Arnona, beides anerkanntermassen im Südwesten der Stadt gelegen. Die Erklärung eines Sprechers des AA, “Ost-Jerusalem” bezeichne, nach internationalem Sprachgebrauch, alle Gebiete der Stadt, welche seit 1967 besetzt seien, ändert nichts daran, dass die Verwendung der Bezeichnung zumindest irreführend, wenn nicht gar missbräuchlich ist. Oder anerkennt plötzlich Deutschland das Jerusalem-Gesetz? In jedem Fall wird mit diesem mittlerweile sehr belasteten Begriff Stimmung gegen Israel gemacht. Ist das Teil der berühmten deutschen Staatsraison?

Es war sodann der deutsche Diplomat, Sven Kühn von Burgsdorff, Leiter der Ständigen Vertretung der EU in den Palästinensischen Gebieten, welcher eine Delegation von Vertretern europäischer Staaten, darunter auch die Schweiz, zu einer Besichtigung der Lokalität der geplanten Wohneinheiten anführte. Ihr Besuch blieb nicht unbeachtet, denn einerseits brachte die Delegation einen Tross von Journalisten im Schlepptau mit, andererseits stellten sich ihnen israelische Demonstranten der Bewegung Im Tirtzu entgegen. Diese verhinderten erfolgreich, dass die Diplomaten vor Ort eine Pressekonferenz abhalten konnten: sie erzwangen die Verlegung in die UN-Vertretung in Jerusalem.

Dass die Bundesregierung sich aktiv am “Wettbewerb um den geschmacklosesten Tweet” beteiligt, belegt sie mit diesem Exemplar:

Es macht den Anschein, da war wieder der Azubi am Werk, der erst seit Montag zur Probe arbeitet und daher unmöglich wissen kann, dass Israel in den letzten 45 Tagen mit 3 arabischen Staaten Friedensabkommen geschlossen hat. Auf Anfrage erklärt das Auswärtige Amt hierzu:

Zu den Normalisierungsabkommen zwischen Israel und den Vereinigten Staaten, Bahrain und Sudan hat Außenminister Maas sich bereits mehrfach öffentlich geäußert. In seiner Erklärung vom 14. August bezeichnete er die Vereinbarung zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten als „historisch“ und als „wichtigen Beitrag zu Frieden in der Region“. Der [hier angesprochene Tweet – die Redaktion] hat einen anderen Fokus, nämlich den Nahostfriedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern. In diesem Kontext ist die Wiederaufnahme der Sicherheitskoordination ein wichtiger positiver Schritt. Diese Frage war auch eines der Themen des Gesprächs.

Stellungnahme des Auswärtigen Amtes zum Tweet vom 17. November 2020 20:13 Uhr

Über Thomas Morvay 311 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

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