
Was auch immer in der libanesischen Hauptstadt in die Luft geflogen ist, hat neben der physischen Sprengkraft auch das kriegsgeschüttelte Land vermutlich symbolisch nachhaltig in Schutt und Asche gelegt.
(Beirut) – Am gestrigen Dienstag, in den späten Nachmittagsstunden Ortszeit, begannen Bilder einer gewaltigen Explosion sich auf dem Kurznachrichtenkanal Twitter zu verbreiten. Aus einer rostbraunen Rauchwolke heraus breitete sich explosionsartig eine Druckwelle aus, welche das Wasser im Hafenbecken wie ein Atompilz aufsteigen liess. Dutzende, aus unterschiedlichen Quellen stammende Videos der Szenerie, zeigen ein Feuer, das sich plötzlich in einen Feuerball verwandelt, und eine Druckwelle, welche die umliegenden Gebäude mit gewaltiger Macht in Schutt und Asche legt.
Der Hafen von Beirut ist ein wichtiger Warenumschlagsplatz, an der Grenze zwischen Europa und Asien gelegen. Das Feuer scheint an einem Ort im Hafen ausgebrochen zu sein, genauer gesagt, in einem Lagerhaus, direkt am Hafenbecken. In den Videosequenzen sind viele kleine feuerartige Entladungen in der Rauchwolke zu erkennen, bevor sich diese in eine Wasserwalze verwandelt und explosionsartig über das ganze Gelände ausbreitet. Das vorliegende Bildmaterial offenbart, dass bereits vor der Explosion ein Feuer ausgebrochen war und erhärtet die These, dass dieses Feuer ursächlich die Detonation auslöste.
Die gewaltige Druckwelle zerstörte Häuser in weiter entfernten Teilen der libanesischen Hauptstadt hinaus: Fenster zerbasten und Wände wurde eingedrückt. Es gibt Berichte darüber, dass die weltweiten Erdbeben-Messstationen ein Ereignis festhielten, das die Stärke eines mittleren Erdbebens erreicht. Nicht unmittelbar verifizierbaren Meldungen zufolge war die Schockwelle im weiter entfernten Zypern zu spüren gewesen. Der libanesische Regierungschef versprach eine transparente und umfassende Klärung des Ereignisses, was freilich, im Angesicht der Ereignisse des vergangenen Jahrzehnte angezweifelt werden kann. Es wäre schon ein Fortschritt, wenn wenigstens einigermassen schlüssig festgestellt werden könnte, ob die ersten Vermutungen zur Ursache der gestrigen Katastrophe zutreffen und tatsächlich zu einem Ammonium-Nitrat Lager führen, das wahlweise der Schiitenmiliz Hisbollah oder der offiziellen Zollbehörde zugeordnet wird. Der Stoff dient als Ausgangsprodukt zur Herstellung von Dünger, eignet sich jedoch genauso zur Produktion von Sprengstoff.
Als Folge des seit Jahrzehnten immer wieder aufflammenden Bürgerkriegs ist Beirut, in den 1960er Jahren gerne als das Venedig des Ostens bezeichnet, zum Zentrum eines dysfunktionalen Staates geworden. Die fein austarierte Machtverteilung zwischen christlichen, drusischen und muslimischen Bevölkerungsteilen ist längst zerbrochen. Die Ursache hierfür liegt im Nahostkonflikt: bereits nach dem Unabhängigkeitskrieg Israels entstanden hier flächen- und bevölkerungsmässig grosse Flüchtlingslager, in denen es seither politisch brodelt. Als die PLO aus Jordanien vertrieben wurde, weil sie die Macht des Königshauses der Haschemiten angegriffen hatte – der sog. “Schwarze September”, als Reaktion König Husseins auf die durch Syrien entfachte Revolte, ist das markanteste Ereignis dieser Epoche – fand die militärische und politische Führung in Beirut ein neues Zuhause. Damit begann auch die syrische Einflussnahme auf die libanesische Politik, welche bis ins erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts anhielt, und welche die Hisbollah als dominierende politische Kraft hervorbrachte.
In einem hilflosen Versuch, das Land nach Ausbruch des arabischen Frühlings zu befrieden, bekam die Hisbollah auch offiziell einen Platz in der libanesischen Regierung, freilich ohne das gewünschte, vorgegebene Ziel je erreicht zu haben. Beobachter meinen nun, die gestrige Explosion könnte den Beginn des Untergangs der Hisbollah einläuten. Mir erscheinen solche Mutmassungen noch als verfrüht. Die Schiitenmiliz geniesst den Support des Irans, und wer die Hisbollah vertreiben will, muss den Einfluss des Irans signifikant einschränken. Dies kann nach meiner Beurteilung erst angegangen werden, wenn erst im benachbarten Syrien eine politische Lösung des dort brodelnden Bürgerkriegs gefunden worden ist. Angesichts der russischen Präsenz im Lande, welche zwar die Machterhaltung des Diktators Assad sicherzustellen scheint, aber keinesfalls zum Ende des Krieges geführt hat, scheint auch dies noch in weiter Ferne.
Dieser Beitrag wurde aktualisiert durch Thomas Morvay, vor 5 Jahren
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