Wenn still erinnern lautes nachdenken heisst!

Letzte Aktualisierung am 27. Januar 2024 durch Thomas Morvay

Einige hundert Menschen kamen heute an den Tessinerplatz, mitten in der Stadt Zürich, zum Gedenkanlass. In Erinnerung an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 79 Jahren. Und aus Solidarität zu Israel, und gegen jeden Antisemitismus. In Luftlinie vielleicht 1km davon standen andere am Helvetiaplatz, um für die Auslöschung von Juden zu demonstrieren. Der Stadt Zürich war es „anfänglich gar nicht bewusst“, welche Monstrosität sie heute zu tolerieren bereit ist. Meine entsprechende Anfrage lässt sie gar unbeantwortet!

Ich stehe hier für meine Eltern und Grosseltern, für Grosstanten und Grossonkel, in stiller Solidarität mit Cousinen und Cousins, für meine Glaubensbrüder und -schwestern. Meine Trauer ist gepaart mit Wut, beides treibt mir die Tränen in die Augen. Ich denke an meine Verwandten und Freunde, allesamt Antworten an H*tler, und bin froh darüber, dass ihre Erzeuger den heutigen Tag nicht miterleben müssen.

Am Tessinerplatz gibt es keine lauten Fanfaren. Die Aufsteller mit den Porträts von in der Schweiz lebenden Überlebenden der Schoah, zur Verfügung gestellt von der Gamaraal Foundation, werden gut eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung aufgestellt, leider reicht anfangs ein leichter Windhauch, um sie umzupusten. Schnell wird aber für die notwendigen Beschwernisse gesorgt, sodass diese Protagonisten aus ihren Geschichten erzählen können.

Auf dem Platz bilden sich Grüppchen, Trauben von Menschen, um die jeweiligen Erzähler herum. Es sind kurze Darbietungen, die meisten halten sich an die Vorgabe von „ca. 3 Minuten“. Und man merkt ihnen an, dass sie durchaus auch mehr zu sagen hätten. Ich weiss nicht, ob es so geplant war, doch mit zunehmender Begeisterung beobachte ich, wie nach Ende der jeweiligen Darbietungen Gesprächsgruppen gebildet werden, man tauscht sich mit den jeweiligen Vortragenden und auch Untereinander aus. Auf diese Weise entsteht eine lebendige Veranstaltung, mitunter gar eine phantastische Stimmung.

Besonders beeindruckt hat mich der junge Hipp-Hopper Knackebuel, der einen Ausschnitt aus seinem gerade entstehenden Buch – „nichts grosses, bloss etwa 100 Seiten“ – vorliest. Er fasst seine Gedanken zu Antisemitismus zusammen, benennt die Gefahren, wie er sie sieht: deren grösste sei nicht der professionelle, geschulte Demagoge, sondern die lächerliche Witzfigur, der mit seinem Dilettantismus scheinbar einfache „Wahrheiten“ vorträgt. Gerne pflichte ich ihm bei, und versichere ihn, dass für uns Direktbetroffene nachgerade die „Stimmen von aussen“ (seine Wortwahl) wichtig sind. Sie bestärken uns darin, dass man unsere Warnungen hört, wahrnimmt und spiegelt.

Der „organisierte“ Teil des Anlasses dauert rund 45 Minuten. Weder die von der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich gestellte Security, noch die diskret aus dem Hintergrund beobachtende Stadtpolizei brauchten einzugreifen. Am Ende waren es wieder die Trauben von Menschen die blieben, und sich auch weiter unterhielten, nachdem die gut wärmende Sonne hinter dem Bahnhof Enge verschwunden war.

Über Thomas Morvay 311 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

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