Muss man das wirklich aushalten?

Davidstern in einer juedischen Kita, aufgenommen in Berlin, 06.11.2023. Copyright: Florian Gaertner; Lizenz: imago

Letzte Aktualisierung am 8. November 2023 durch Thomas Morvay

Kurz vor dem Wochenende machte eine Meldung die Runde, ein Kindergarten in Sachsen-Anhalt, das seit Jahrzehnten den Namen Anne Frank trägt, müsse auf Druck von Migranteneltern umbenannt werden. Das Schicksal des im KZ ermordeten Teenagers sei den Kindern nicht vermittelbar, und die Eltern könnten mit dem Namen schon nichts anfangen. Bei näherem Hinsehen passt einiges nicht zusammen. Wer hat daran ein Interesse, einen solchen Skandal, vor dem Hintergrund der Tagesaktualität des Gaza-Kriegs und der Reichspogromnacht, hoch zu kochen?

Tangerhütte ist ein beschaulicher Ort, irgendwo zwischen Berlin und Magdeburg, dessen Bevölkerungszahl es knapp erlaubt, ihn Stadt zu nennen. Der Ausländeranteil ist, nach den neuesten verfügbaren Zahlen, ist unter 5%. Dennoch ist er seit wenigen Tagen in den Sozialen Medien omnipräsent, alle zerreissen sich das Maul – und auch die renommierte Jerusalem Post berichtet über ein Ereignis, das anscheinend die Welt bewegt. Ein Kindergarten, das schon vor der Wende den Namen von Anne Frank trug, soll umbenannt werden. Kolportiert wird ein Druck von Eltern, die angeblich keine Ahnung haben, wer Anne Frank ist, und die Verantwortlichen hätten auch Schwierigkeiten, das Schicksal der wohl berühmtesten Tagebuchschreiberin den Kindern zu vermitteln.

Zu Recht stellen sich dem Beobachter einige Fragen. Ist hier die Integration gescheitert? Gibt es, obschon “Holocaust Education” seit Jahren thematisiert wird, kein geeignetes Modell, die Tragik der kurz vor Kriegsende verstorbenen Mädchens, adäquat zu vermitteln? Und, warum gerade jetzt? Wer versucht dieses Thema ausgerechnet mitten im Gaza-Krieg medial auszuschlachten, angesichts der von der Mörderbande Hamas verübten Gräuel, aber auch der Forderung von Bundeskanzler Olaf Scholz, jüdisches Leben in Deutschland zu schützen? Ein bisschen zuviel der Zufälle?

Gestern nun veröffentlichte der Bürgermeister der “Einheitsgemeinde”, ein Parteiloser, Mitte Vierzig, mit Namen Andreas Brohm, eine Pressemitteilung. Danach hätte die Kindertagestätte “in den vergangenen 14 Monaten einen Erneuerungsprozess durchlaufen”. In diesem Zusammenhang sei bereits Anfang 2023 die “Diskussion aufgekommen”, durch eine Namensänderung die grundlegende Konzeptionsänderung nach aussen sichtbar zu machen. “Diese Diskussionen laufen immer noch, ohne dass aktuell eine Entscheidung darüber anstünde”. Dem Bürgermeister ist es wichtig zu betonen, dass seine Stadt für ein weltoffenes Deutschland stünde, das sich gleichzeitig seiner historischen Verantwortung genau so bewusst sei wie seinem Bildungsauftrag.

Vor diesem Hintergrund richteten wir gestern eine journalistische Anfrage an das Büro von Bürgermeister Andreas Brohm, mit den folgenden Fragen:

  • Ich habe eruieren können, dass der Ausländeranteil im Landkreis Stendal bei unter 5% liegt, weit unter dem Landes- oder Bundesdurchschnitt. Daher stellt sich für mich zunächst die Frage, ob evtl. der Anteil von Migrantenkindern in dieser spezifischen Kita überdurchschnittlich ist? Oder vielleicht in Ihrer Stadt? Können Sie mir dazu konkrete Zahlen nennen?
  • Mit Interesse habe ich Ihre heutige Pressemitteilung gelesen, nach der eine Umbenennung «aktuell nicht» anstehe. Was heisst das konkret, wenn zugleich erklärt wird: «Anfang 2023 auch die Diskussion aufgekommen, diese grundlegende Konzeptionsänderung durch einen anderen Namen der Einrichtung auch nach außen hin sichtbar zu machen»
    • Gibt es diese Pläne?
    • Wie weit sind sie fortgeschritten?
    • Wer hat dies initiiert und wer ist hier federführend, resp. entscheidungsbefugt?
  • In der Presse wird kolportiert, ein (grosser?) Teil der Eltern könne mit dem Namen Anne Frank nichts anfangen, auch sei die Person und ihr Schicksal den Kindern schwer vermittelbar.
    • Wie steht es mit der Integration von Migranten in Ihrer Stadt?
    • Wie ist möglich, dass ausgerechnet das gut erforschte Schicksal der Familie Frank und ausgerechnet das in Dutzende von Sprachen übersetzte Tagebuch der Anne «nicht vermittelbar» sein sollen?
  • Wie erklären Sie sich, dass diese, doch sehr kommunale, «nicht aktuell anstehende» Entscheidung ausgerechnet in einer Zeit internationale «Berühmtheit» erlangt hat? Und was hat das womöglich mit der – gemäss BKA –  drastischen Zunahme antisemitisch motivierter (Gewalt-)straftaten in den ersten 3 Quartalen des Jahres zu tun?
Der Fragekatalog an die Stadt Tangerhütte, vom 6. November 2023

UPDATE: Kurz vor Mitternacht am Dienstag, meldete sich dann das Büro des Bürgermeisters zurück, mit der lapidaren Antwort, grundsätzlich sei “der Sachverhalt mit der PM [es dürfte die erwähnte Pressemitteilung damit gemeint sein; Anm. der Redaktion] klargestellt”; das Kuratorium hätte sich entschieden den “Prozess zu beenden”, sodass es keine Namensänderung geben werde. Und die Stadtfraktionen hätten sich schon im Vorfeld gegen diese erklärt. Angeheftet war die Pressemitteilung, von der wir bereits bei Vorlage unseres Fragenkatalogs schrieben, wir hätten sie zur Kenntnis genommen.

Da mag sich der Bürgermeister wohl wünschen, alles wäre gesagt. Doch, eine konkrete Antwort auf die von uns gestellten, klar formulierten Fragen, ist dies aber keinesfalls. Dass man aber in Tangerhütte meint, 30 Jahre nach der Wende, mit der Presse und Öffentlichkeit so umgehen zu können, ist allerdings auch eine Aussage, die es in sich hat!

Über Thomas Morvay 326 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

2 Kommentare

  1. So etwas wie Anne Frank- Tagebücher sollte für jede Schulklasse über 10 Jahre Alter von der Geschichten- und literarischen Ausbildung nicht fehlen.

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