Er prägte die Welt, wie kein Anderer: Henry A. Kissinger

Das Bild zeigt Henry Kissinger wenige Tage vor seinem Tod am Galadinner für chinesisch-amerikanische Beziehungen (Lizenz: imago/Xinhua; Copyright: Li Rui)

Letzte Aktualisierung am 30. November 2023 durch Thomas Morvay

Der in Fürth geborene Henry A. Kissinger, U.S.-Nationaler Sicherheitsberater und Aussenminister der Präsidenten Nixon und Ford, verstarb 100-jährig in New York. Bis ins hohe Alter prägte er unsere Sicht auf die Welt. Auch als „Elder Statesman“, ein Titel, den er mit Leib und Seele bis zuletzt verkörperte wie kaum ein anderer – ist damit von der Weltbühne abgetreten. Er wird schmerzlich vermisst werden.

Bereits 1954, im Jahr als er seine Dissertation ablieferte, galt er als Ausnahmeerscheinung. Seine Sicht auf das Europa des 19. Jahrhunderts, das später als Buch unter dem Titel „A World Restored: Castlereagh , Metternich and the Problems of Peace“ erschien, kann mit Fug und Recht als theoretisches Fundament seines späteren Wirkens bezeichnet werden. Ich entsinne mich, das Buch Anfang der 1970er Jahre gelesen zu haben, um zu verstehen, was er mit Détente und der Annäherung an Breschnews Sowjetunion, sowie der mit „Ping Pong“-Diplomatie begonnenen Dialogs mit China im Schilde führte. Jenes Buch und dessen praktische Anwendung auf die Welt von heute prägten mein geostrategisch orientiertes Weltbild.

Wie nahe Triumph und Versagen, Bewunderung und Verachtung liegen können, erfuhr ich – und auch das ein prägendes Ereignis meines politischen Werdegangs – im Herbst 1973 und den folgenden Monaten. Heute wissen wir, welche entscheidende Rolle Kissinger im Verdrängen der Sowjetunion aus dem Nahen Osten spielte. Sein bereits Ende 1971 aufgenommener Dialog mit Anwar Sadat spielte hierbei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Allerdings – wie man heute ebenfalls weiss – er war genauso bereit, und dies habe ich ihm bis heute nicht verziehen, Israel für sein „übergeordnetes“ amerikanisches Interesse zu opfern, und hat für mich entscheidend die Lieferung von dringend benötigten Waffen an den um sein Überleben kämpfenden jüdischen Staat verzögert. Er liess es auch nicht zu, dass die 3. ägyptische Armee vernichtet wurde, denn das hätte seine beabsichtigte Umgestaltung des Kriegsausgangs zunichte gemacht.

Nichtsdestotrotz, Kissinger blieb, weit über das Ende seines politischen Involvements in der Aussenpolitik der Vereinigten Staaten hinaus, einflussreich. Davon zeugen nicht nur unzählige „Huldigungen“ späterer Akteure – darunter die U.S.-Aussenministerinnen Madeleine Albright und Hillary R. Clinton – darunter legen auch seine Publikationen bis weit ins 21. Jahrhundert hinein Zeugnis ab. Er, der sein politisches Wirken mit dem von ihm geprägten Begriff der „Westphälischen Ordnung“ von Nationalstaaten begonnen hatte, begrub dieses Konzept und war in der Lage, dieses 60 Jahre später durch eine neue Vision zu ersetzen. Seinem in 2014 erschienen Werk gab er den Titel „World Order“, das Echo der Überschrift seiner Doktorarbeit unüberhörbar. Für Kissinger münden die Konzeptionen von Nationalstaaten in Europa, die Idee des „Mittelreiches“ als die chinesische Vision unserer Tage, in die nunmehr Vorherrschaft erlangende Konzeption eines „Politischen Islams“, das er als inherent nicht-nationalstaatlich definiert und mit der U.S.-amerikanischen Form von Demokratie kontrastiert.

Kissinger blieb bis zuletzt streitbar und auch umstritten. Dazu hat er selbst so einiges beigetragen: so erzählte er unterschiedlichen Zuhörern jeweils, sagen wir mal, angepasste Versionen seiner unbestritten anhörungswürdigen Anekdoten. Alleine wem er alles sein Bonmot zu Besten gab, er sei in erster Linie Amerikaner, dann Aussenminister und erst danach Jude! Am Ende des Tages hat er zwar im Rahmen seiner berühmt gewordenen Pendel-Diplomatie Entflechtungsabkommen zwischen Israel und den sie angreifenden Staaten ausgehandelt, die Krönung, der Friedensvertrag zwischen dem jüdischen Staat und Ägypten, gehört nicht zu seiner Palmarés. Stirnrunzeln verursachte in jüngerer Vergangenheit auch sein Standpunkt, mit Russland, nach dessen Besetzung der Krim, im Gespräch zu bleiben. Am Ende des Tages aber bleibt: zusammen mit Winston Churchill gehört er zu den einflussreichsten und prägendsten Gestalten des 20. Jahrhunderts. Ein ganz Grosser ist heute abgetreten.

Über Thomas Morvay 311 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

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