Heute Abend ist Jom Kippur, der Höhepunkt der 10 Tage der Umkehr. Für mich traditionell die Zeit der Reflexion. Früher, als mein Vater noch lebte, stand ich mit ihm gemeinsam in der Synagoge. Als er schon sehr alt war – er starb mit 96 Jahren – sassen wir nebeneinander, in dem kleinen Raum im Holbeinhof, meine Mutter ein paar Reihen hinter uns. Ich hielt seine Hand, das war unsere Art der Kommunikation, wir beide in Gedanken versunken. Ich jenen Momenten war ich ihm am nächsten. Mein Vater war nie besonders religiös. Er war in einem sekularen, assimilierten Elternhaus aufgewachsen. Und sowieso: nach dem Trauma des Arbeitsdienstes, in dessen Verlauf er und seine Kameraden als lebende Minenräumer der ungarischen Armee in der Ukraine gedient hatten,, und jene die überlebten, von den Sowjets hinter den Ural verschleppt wurden, da gab es für ihn keinen Grund mehr, zu glauben. Fortan gedachte er eher der Tradition, an den Hohen Feiertagen, als dass er noch geglaubt hätte.
Für meine Mutter kann ich nicht dasselbe Mitzwa erbringen, die Basler Gemeinde ist traditionell ausgerichtet, Männer und Frauen strikt getrennt. Aber ich weiss noch genau, als ich zum ersten Mal in der Grossen Synagoge in Budapest, damals noch als kleiner Bub, mit ihr zusammen auf der Empore stand. Es war 1967, und meine Eltern fühlten – wie so viele damals, im Jahr nach dem Sechs-Tage-Krieg – dass sie mit erhobenem Haupt sich als Juden im Kommunismus zeigen konnten. Ich entsinne mich, wie ich die Mystik im Lichtenmeer der Synagoge wahrgenommen hatte. Als meine Mutter sich zu mir herunterbeugte und mir die Worte „Kol Nidrei“ ins Ohr flüsterte, verstand ich nur „Bahnhof“. Aber mir war klar, dass das ein ganz besonderer Moment sein musste. Jahrzehnte später erzählte sie mir – es war eine der seltenen Momente, wo sie über den Krieg sprach – wie sie im Lager 1944 Jom Kippur gefeiert haben. Sie, die Tochter in einem koscheren Haushalt aufgewachsen, hatte in Auschwitz nicht nur ihre Eltern verloren, auch den Glauben. Aber auf die Tradition, das Kol Nidei zu hören, konnte auch sie nicht verzichten.
Auch ich lebe die Tradition, und sei es, indem ich an Jom Kippur auf meine Wurzeln besinne. Ich lege Rechenschaft ab, über meine Taten im abgelaufenen Jahr. Auch dafür, was ich versäumte hatte zu tun. Nicht im Wertekanon der Religion, aber nach meinem Verständnis über ein verantwortungsbewusstes Leben. Nicht für einen G‘tt, dessen Existenz ich zwar nicht leugne, aber an den ich mehr als transzendentales Wesen glaube. Zwar nicht einer, dem ich Rechenschaft schulde, vielmehr dessen Existenz für mich im Sinne einer Tradition, wie sie mir meine Eltern vorgelebt haben, absolut gegeben ist.
Für meine Mutter sind ihre Eltern gestorben, damit ein modernes Israel entstehen konnte. Als wir gemeinsam in Jerusalem waren, kam weder sie, noch mein Vater mit, Yad Vashem zu besuchen. Damals fühlte ich mich von ihnen alleine gelassen. Heute verstehe ich ihr, niemals laut ausgesprochenes, „Wozu“, vielleicht nicht absolut, aber ganz gewiss auf eine Weise, welche zu mir und zu meiner Weltsicht passt. Das ist meine Tradition geworden, es erlangte Bedeutung im Bewusstsein, dass es ein „nie wieder“ nicht geben kann, aber wo es imperativ wird, „nie vergessen“ zu leben. Ich verstehe es als die humanistische Pflicht, an das Gute im Menschen zu glauben, ohne vor dem Schlechten die Augen zu verschliessen. Die Generationen meiner Eltern und deren Eltern konnten sich das, was als Zivilisationsbruch in die Geschichte einging, nicht vorstellen.
Es ist mein winziger Beitrag, das erneute Auftreten dieser Barbarei hinauszuzögern, dass ich eben „niemals vergesse“. Deshalb bitte ich an Jom Kippur jene um Verzeihung, denen ich im letzten Jahr Unrecht getan habe, und vergebe denen, die mir Schlechtes wollten.
G‘mar Chativa Towa – allen meinen jüdischen Freunden und Bekannten.
Danke, sehr schön geschrieben.
Abwesenheitsbedingt komme ich erst jetzt dazu, mich zu bedanken. Ettől függetlenül, köszönöm szépen.