Letzte Aktualisierung am 24. November 2021 durch Thomas Morvay
Zürich – In Zeiten von Corona ist die grösste Hürde bei jeder Verantstaltung gleich beim Eingang aufgestellt: ohne Zertifikat oder Impf- resp. Genesenen-Ausweis kommt man nirgends hinein. Ist das geschafft, befindet man sich im Foyer eines Saales mit Klappstühlen und sogar ein paar gemütlichen Fauteuilles vor einer leicht futuristisch anmutenden Bühne.Es ertönt keine Glocke, nein, die Moderatoren rufen pünktlich um 19:30 Uhr auf sich doch hinzusetzen, damit es losgehen kann.
BabelKultur, ein in Zürich tätiger Verein, will “mit Veranstaltungen, Aktionen und Interventionen das Gespräch und den Austausch rund um Fragen des Judentums in der Schweiz zu fördern”. Seit 2019 haben Dr. Bettina Spoerri und Klaus Miklos Rozsa 10 solche Anlässe organisiert. Ein nächster Zyklus ist in Planung.
Ein Gemeinderat, eine ehemalige Lehrerin und ein Informatiker treffen sich auf einer Bühne – so ähnlich beginnt manch ein jüdischer Witz. Und die Gemeinsamkeit zwischen ihnen, zusammen mit den beiden Moderatoren, ist tatsächlich ihre Zugehörigkeit zum Judentum.
Das ist mal was anderes: sonst ist man als Jüdin oder Jude auf dem Podium eher in Unterzahl. Und hier sitzen fünf jüdische Menschen.
Bettina Spoerri, in der Einleitung zum Gespräch
Sie vertreten unterschiedliche Ausrichtungen innerhalb der breiten Palette der jüdischen Identitäten: der Gemeinderat Ronny Siev rechnet sich zu den liberalen Juden, die ehemalige Lehrerin und Kindergärtnerin Mireli Treuhaft lebt mit ihrer Familie ein orthodoxes religiöses Leben, und der Informatiker André Golliez entstammt einer gemischten Ehe und singt seit 34 Jahren im Synagogenchor. Sie haben auch unterschiedliche Lebenswege, in Bezug auf ihre jüdische Identität: während Siev erst als direkt Betroffener von antisemitischen Angriffen und des zunehmenden anti-Israel geprägten Antisemitismus seine Position gefunden hat, wuchs Treuhaft in einem nach den Religionsgesetzen ausgerichteten Haushalt auf und gab diese selbstverständlich an ihre Kinder weiter, wie auch diese heute ein orthodoxes Leben führen; und für Golliez ist die Gemeinschaft im Synagogenchor das prägende jüdische Element, er und Rozsa waren vor 50 Jahren zusammen im “Bunker”, dem Urquell der links-autonomen Szene in Zürich der 1970er Jahre.
Ich bin Schweizerin, das ist klar
Eingangs-Statement von Mireli Treuhaft
So divers ihr Werdegang auch ist, sind sich die Podiumsteilnehmer im Grossen und Ganzen einig: in Zürich kann jeder nach seiner eigenen Façon sein Judentum ausleben, wie es Mireli Treuhaft auf den Punkt bringt. Dennoch fühlen sich alle drei, mehr oder weniger, als Aussenseiter, formuliert Ronny Siev. Mireli Treuhaft ist dazu der Auffassung – und stützt dies auch auf eine Umfrage unter Jugendlichen, die in der Israelitischen Cultusgemeinde Zürichs (ICZ) durchgeführt wurde – dass ein bewusstes Leben nach den jüdischen Gesetzen einen gewissen Schutzpanzer bietet gegen antisemitische Anfeindungen. Der Holocaust, ein prägendes Element der meisten jüdischen Familien heutzutage, fand in der staatlichen Schule, die Ronny Siev besucht hat, nicht statt, der Geschichtsunterricht hörte nach dem Ersten Weltkrieg auf.
Wir haben “Das Kapital” gelesen – mein Geschichtslehrer war wohl ein Kollege von euch
Ronny Siev, mit einem freundschaftlichen Seitenhieb auf André Golliez und Miklos Klaus Rozsa
Sind Juden in Zürich sicher? Sicherer, als an manch anderen Orten in Europa, ist die einheitliche Meinung in der Runde. Doch, und das stört sie, von den jüdischen Gemeinden ist lange Zeit erwartet worden, dass sie für ihre Sicherheit selbst aufkommen. Das treffe auf keine andere Religionsgemeinschaft zu, urteilt Gemeinderat Ronny Siev. Erst in den letzten Jahren hätte es hier eine Veränderung gegeben. Interessant, dass niemand die Angriffe auf Juden auf Zürichs Strassen, in diesem Zusammenhang erwähnte. Es entstand der Eindruck, wenn geklärt ist, wo das Geld herkommt, sei alles klar. Bloss nicht unnötig auffallen?
Das Publikum tat sich schwer mit Wortmeldungen. Der Aufforderung von Bettina Spoerri, das Eis zu brechen, kam nach einigem Zögern, eine nicht-jüdische Teilnehmerin nach. Und sie stellte eine Frage, aus der sich die vielleicht intensivste Beschäftigung mit Aspekten des jüdischen Lebens entspann: wenn Juden in Zürich ausgehen, wo gehen sie hin? Gibt es in Zürich koschere Restaurants? Lag es am Publikum, an den Teilnehmern oder gar an den Moderatoren, dass ausgerechnet diese – man möge mir die Einschätzung nachsehen – Nebensächlichkeit am Ende die einzige Publikumsfrage blieb? Da möge jeder seine eigenen Schlüsse ziehen. Kurz nach 21 Uhr war die Veranstaltung zu Ende, manche machten sich direkt auf den Nach-Hauseweg, während ein harter Kern noch länger verblieb und sich in informellen Gesprächen austauschte – auch zu themenbezogenen Aspekten, die im Hauptteil gar nicht zur Sprache kamen.
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