Was war denn hier los?

Mehr offene Fragen denn Antworten nach dem Interview

Philippe Lazzarini
Philippe Lazzarini, Generalsekretär des Hilfswerks der Vereinten Nationen für die Palästinensischen Flüchtlinge, an einer Pressekonferenz aam 23. Mai 2021 in Gaza. Quelle: imago/ZUMA; Copyright: Ahmed Zakot

Letzte Aktualisierung am 14. Juli 2021 durch Thomas Morvay

(Zürich) – Am Wochenende gab der Generalsekretär des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA), der Schweizer Diplomat Philippe Lazzarini, der Neuen Zürcher Zeitung ein Interview. Dass dieses mehr Fragen aufwirft als es beantwortet – und das sowohl in Bezug auf das Handwerkliche der Interviewführung wie auch den Inhalt des Gesprächs – wohlgemerkt, in einem der renommiertesten Zeitungen Europas – ist dabei bemerkenswert und verstörend.

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Lazzarini hatte sein Amt 2020 angetreten, nachdem sein Vorgänger Pierre Krähenbühl unter der Last interner Untersuchungen zu seinen fragwürdigen Führungspraktiken den Hut nehmen musste. Der UN-Untersuchungsbericht ist bis heute öffentlich nicht zugänglich. Auch wenn es seither etwas ruhiger geworden ist um UNRWA, ist die Kritik an der Organisation und seinen Praktiken bis heute nicht verstummt. Die vielbeschworenen Reformen, welche bei jeder Kontroverse um die Organisation aufs Neue angesprochen werden, sind bis heute nicht erkennbar geworden. Der Diskurs darum bleibt in den ideologischen Schützengräben stecken, und die Leidtragenden sind weiterhin jene, denen doch alle helfen wollen, Armut und Perspektivenlosigkeit zu überwinden.

Das Interview beginnt gleich mit einer abenteuerlichen Aussage der Fragesteller, der Behauptung, UNRWA müsse “nach dem jüngsten Gaza-Konflikt” die Küstenenklave “wieder aufbauen”. In Tat und Wahrheit ist dies weder Teil des Mandats des Hilfswerks, noch hat der 11-tägige Konflikt sich durch flächendeckende Bombardements oder grossflächige Zerstörung ausgezeichnet. Vielmehr war ausführlich berichtet worden, mit welcher Präzision sich die israelische Luftwaffe ihrer Ziele annahm. Zudem wird hier, gleich zu Beginn des Interviews, eine Opfer-Täter-Umkehr vorgenommen, und dabei insbesondere verschwiegen, dass die Terrormilizen in Gaza die Zivilbevölkerung als Schutzschilder nehmen und aus ihrer Mitte ihre Raketen abfeuern. Auch wenn es nicht Ziel des Gesprächs sein kann, eine völker- oder kriegsrechtliche Bewertung vorzunehmen, diese Kriegsverbrechen zu verschweigen, dient niemandem. Inzwischen ist auch klar, dass rund ein Viertel aller Geschosse der Terroristen, noch im Gazastreifen selbst niedergegangen waren, und damit wesentlich zu den massiven Schäden und Opfern beitrugen.

In seiner Antwort gelangt Lazzarini zum Schluss, die seit vierzehn Jahren andauernde Blockade sei Wurzel allen Übels in Gaza. Der Wiederaufbau müsse “mit einem echten politischen Prozess” verbunden werden, und dazu müsse erst einmal “die Blockade gelockert” werden. Das ist billig, ja fast schon demagogisch, und doch wird es nur sehr zaghaft hinterfragt.

Sie sehen die Blockade mehr als Problem denn als Lösung?

Die Blockade verhindert den Personen- und Warenverkehr und damit den Wiederaufbau, aber auch wirtschaftliches Wachstum und eine Perspektive für die lokale Bevölkerung. Ich war vor vierzehn Jahren das erste Mal in Gaza, nach der zweiten Intifada. Es war eine Zeit der Gewalt, aber auch eine Zeit voller Hoffnung. Kleine palästinensische Firmen schlossen damals Kooperationen mit israelischen Unternehmen, viele Mitarbeiter sprachen Hebräisch. Heute kann niemand unter fünfzig mehr Hebräisch in Gaza. Es gibt keinen Austausch, keinen Handel, keine Kooperation. Dies hat zur Entmenschlichung des Konflikts geführt und ist mit ein Grund, warum er so unerbittlich geführt wird.

Quelle: Interview mit UNRWA Generalsekretär Philippe Lazzarini, Neue Zürcher Zeitung, 3.07.2021

Problematisch an dieser Aussage Lazzarinis ist, dass dieser keinerlei Kontext liefert und auch nicht durch die Fragesteller dazu aufgefordert wird. Da wäre zunächst der Hinweis angebracht, dass die Blockade damals das Ergebnis eines internationalen Konsenses gewesen war, nach der gewaltsamen “Machtergreifung” der Hamas im Jahr im Jahr 2007. Sowohl Israel wie auch Ägypten riegelten den Streifen hermetisch ab, und bis zum heutigen Tag ist der ägyptische Grenzübergang Rafah deutlich häufiger komplett gesperrt als die Übergänge nach Israel, über die der Grossteil der humanitären Hilfslieferungen abgewickelt werden. Was den Umfang der blockierten waren betrifft, so wurde erstmalig 2009 die Liste der sog. “dual-purpose goods” überarbeitet und damit der Warenfluss wesentlich verbessert. Wer sich die Mühe macht – und es bedarf keiner besonderen Mühe – kann sehr transparent sehen, welche Waren und in welchem Umfang in die Enklave von Israel aus hereingelassen werden: das “Coordination of Government Acitivities in the Territories” (COGAT) veröffentlicht wöchentlich, auch auf ihren Social Media-Präsenzen umfangreiches Zahlenmaterial dazu. Dort wird auch auf die seit 2014 errichtete “Gaza Reconstruction Mechanism” hingewiesen, im Gegensatz zu Lazzarinis Aussagen, der sich dazu beredt ausschweigt!

Lazzarini selbst bringt sodann die Fragesteller zum Thema Schulen und Unterrichtsmaterialien: auf die generelle Frage nach den Möglichkeiten, wie UNRWA “zu einer Lösung des Gaza-Konflikts” beitragen könne, sagt er u.a. wörtlich, er sei “überzeugt, dass unsere Schulen ein wichtiges Gegenmittel gegen die anhaltende Gewalt und den verbreiteten Hass sein können”. Das mutet geradezu naiv und blauäugig an, und es wird auch nicht besser, als die Interviewer nachhaken:

UNRWA-Schulen wurde aber wiederholt vorgeworfen, in den Schulbüchern Hass gegen Israel und Gewalt zu propagieren.

Wir verwenden in unseren Schulen die Schulbücher der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah. Wir prüfen genau, ob das Lehrmaterial, das uns zur Verfügung gestellt wird, neutral und dem Alter der Schüler angemessen ist und wie es Geschlechterstereotype darstellt. Wenn wir Material finden, das nicht den Uno-Werten entspricht, erklären wir unseren Lehrern, wie sie dies im Unterricht einsetzen können.

Quelle: Interview mit UNRWA Generalsekretär Philippe Lazzarini, Neue Zürcher Zeitung, 3.07.2021

Dass dies pure Augenwischerei ist, darauf verwies vor kurzem die Untersuchung der israelischen Nicht-Regierungs-Organisation “Institute for Monitoring Peace and Cultural Tolerance in School Education” (IMPACT-se). Deren Analyse von Materialien, welche durch UNRWA selbst als Begleitmaterial zu den Schulbüchern der PA angeboten werden, zeigt auf – die Studie und ihre Ergebnisse wurden, auch von uns, hier vorgestellt – dass auch diese in eklatanter Weise dazu beitragen, Kinder mit tendenziösen Beispielen und Aufgaben zu radikalisieren. Die Frage sei an dieser Stelle erlaubt: glaubt Herr Lazzarini wirklich, das nähme ihm irgend jemand noch ab; und dazu, an die Fragesteller gerichtet: warum lässt man den Befragten damit durchkommen?

In der Folge werden noch die “Finanzierungsschwierigkeiten” der UNRWA angesprochen, sowie die “Vertrauenskrise”, u.a. auch mit Bundesrat Ignazio Cassis. In geradezu billiger Weise macht Lazzarini für ersteres fast ausschliesslich die Trump-Administration verantwortlich, während er betont, mit dem Schweizer Aussenminister “einen sehr guten Austausch” gehabt zu haben, und dabei “viele Übereinstimmungen” gefunden zu haben. Auch dazu gab es kein Einhaken, keinerlei Widerspruch von den, das Interview führenden Journalisten. Dass die Entdeckung eines Tunnels unter einer der durch UNRWA geführten Schulen dazu genutzt wird, auf die zugegeben schwierigen Rahmenbedingungen in Gaza einzugehen, erstaunt dann nicht weiter. Wie sonst muss man die Frage verstehen: “Sie kommen nicht umhin, mit der Hamas im Alltag zumindest eine Arbeitsbeziehung zu haben. Wie verhindern Sie, dass die Hamas sie ausnutzt?” Und als Steigerung dann das abschliessende “Horrorszenario”:

Wenn die UNRWA verschwände, ohne dass es eine politische Lösung oder eine Alternative gäbe, würden die Verzweiflung, das Leiden, die Hoffnungslosigkeit noch einmal zunehmen. Und die grosse, verletzliche Gruppe der palästinensischen Flüchtlinge würde noch verletzlicher und hoffnungsloser. Und in einem so explosiven Umfeld ist Verzweiflung und Frustration eine ernste Gefahr für die Stabilität und den langfristigen Frieden. Ohne eine praktikable Alternative wäre die Abschaffung der UNRWA ein totales Desaster.

Quelle: Interview mit UNRWA Generalsekretär Philippe Lazzarini, Neue Zürcher Zeitung, 3.07.2021

Schmierentheater ist da noch zurückhaltend formuliert. Doch, die Frage bleibt: cui bono? Hat hier jemand ein Interview bestellt? Sassen sich da wirklich Fragesteller und Befragter gegenüber, oder war das ganze “Gespräch” auf schriftlichen Wege geführt? Warum hat ein Blatt vom Format der “Alten Tante” so etwas nötig?

David Bedein, Direktor des in Jerusalem ansässigen des Bedein Center for Near East Policy Research und von UNRWA Monitor, hat in seiner aktuellen Mitteilung an die Presse viele unserer Anmerkungen ebenfalls herausgestellt und kritisch kommentiert.

Leider ist jedoch das öffentliche Echo auf den Beitrag in der NZZ bisher fast nicht feststellbar. Israel muss – und dies ist bedauerlicherweise auch keine neue Erkenntnis – viel mehr tun, um die Schlachten um die Gunst der Weltöffentlichkeit nicht fast kampflos ihren Gegnern zu überlassen!

Über Thomas Morvay 311 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

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