Verfassungskrise in Israel – gibt es eine Lösung?

Protestierende blockierten auch gestern den Ayalon Highway in Tel Aviv. Die Polizei versuchte mit Wasserwerfern, die Blockade zu beenden. (Lizenz: imago / SIPA USA; Copyright: Matan Golan)

Letzte Aktualisierung am 24. März 2023 durch Thomas Morvay

Jerusalem – Israels Premierminister Benjamin Netanjahu hat seine Abreise nach London um Stunden nach hinten verlegt. Gestern Abend hielt er eine Rede, vor dem Hintergrund einer kolportierten Regierungskrise, deren prominentester Kopf der Verteidigungsminister Yoav Gallant sein soll. Der Generalstaatsanwalt erklärte heute früh Netanjahus Rede für gesetzeswidrig, und der Regierungschef setzte die sonntägliche Kabinettssitzung angeblich ab.

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Es ist schwer sich vorzstellen, dass es noch schlimmer kommen könnte, und doch wird man fast stündlich eines “Besseren” belehrt! Der seit Jahren mit grosskalibrigem juristischen Geschütz belagerte Regierungschef, der amtierende und zugleich unter Anklage stehende, und doch – zugleich vielleicht gerade deswegen – wiedergewählte Netanjahu scheint mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Geradezu grotesk muten seine wöchentlichen Ausflüge nach Europa an: letzte Woche nach Rom und Berlin, aktuell nach London. Der Premier begründet diese mit der Notwendigkeit, seine Einflussnahme auf die Europäer, mit Blick auf die akuter werdende Gefahr eines nuklearen Irans. Derweil versucht seine Koalition in der Knesset eine Justizreform durchzupauken, in der unbestrittenermassen Netanjahus politische Zukunft auf dem Spiel steht!

Der Protest auf den Strassen des Landes dagegen hält bereits in der elften Woche an, und ein Ende ist nicht abzusehen. Soldaten weigern sich, als Reservisten aufgeboten zu werden, Verteidigungsminister Gallant will eine Ansprache halten und wird nur durch die Koalitionsdisziplin vom Premierminister davon abgehalten. Das sind Bilder, die nur schwer wieder aus dem Kopf zu bekommen sind. Das Land ist zutiefst gespalten, durch politische Agitation wird von beiden Seiten ein an Dramatik nicht zu überbietendes Bild heraufgeschworen. Die Warnung, bereits im Wahkampf ausgesprochen, dass Faschisten das Land übernehmen, verstummt nicht. Sie erhält laufend Nahrung, nicht zuletzt durch fragwürdige Äusserungen der Leute, mit denen sich der “Rekord-Amtsinhaber” ins Bett gelegt hat. Auf der anderen Seite ist auch das auf der Gegenseite erhobene Behauptung nicht von der Hand zu weisen, die Mitte der 1990er Jahre eingeleitete Revolution – das Wort ist durch den dannzumaligen Obersten Richter Aharon Barak selbst verwendet worden – hätte zu einem Zustand geführt, in der eine Säule der Demokratie, die Judikative, eine Machtfülle erlangt hat, die diese auszuhebeln droht.

Wie so vieles, darf auch die akute Lage nicht ohne den historischen Kontext betrachtet werden. Nach dem Waffenstillstand im Unabhängigkeitskrieg gab es Bestrebungen, eine Verfassung zu schreiben. Das Ansinnen scheiterte, Israel wählte den Weg von sog. Grundgesetzen, die in der, in jeder Demokratie existierenden Rangfolge über der ordentlichen Gesetzgebung stehen, und eben anstelle einer geschriebenen Verfassung die notwendige Gewaltentrennung gewährleisten müssten. Während der ersten 30 Jahre, und unter dem Damoklesschwert wiederholter Angriffe arabischer Staaten, welche “die Juden ins Meer werfen” wollten, lebte man mit dieser Zwischenlösung. Baraks Revolution kann man als Startschuss sehen, die Frage nach der geschriebenen Verfassung erneut auf die Tagesordnung zu setzen, und die aktuelle Krise ist dann die quasi folgerichtige letzte Stufe auf diesem Wege.

Soweit der Versuch einer einigermassen neutralen Bewertung der Ereignisse, einer quasi Aussensicht. Nein, unsere Maxime, wonach nur die Israeli selbst das Recht haben, über ihre Lebensweisen zu entscheiden, werfen wir damit nicht über Bord. Am “Spielfeldrand” stehend, haben wir Aussenstehende kein Recht, ihnen zu sagen, was sie tun und lassen. Aber: der Machtkampf ist das heutige “Altalena” und die heutige “hunting season”. Wo ist der heutige Menachem Begin, der den Mut hatte, entgegen der Stimmung in den eigenen Reihen sich hinzustellen, um einen Bruderkampf unter den Juden und werdenden Israeli zu stoppen? Darauf muss sich Benjamin Netanjahu besinnen – und als Bewunderer Begins ist er singulär dazu geeignet. Aber wird er auch die menschliche Grösse dazu haben? Das ist die entscheidende Frage!

Über Thomas Morvay 310 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

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