Preisgekrönte Schande

David Friedrich bei der Aufzeichnung der NDR Talk Show im Studio Lokstedt. Hamburg, 13.07.2017 Foto Credit: gbrci / Future Image

Letzte Aktualisierung am 23. Januar 2022 durch Thomas Morvay

Hamburg – Wenige Tage vor dem Jahrestag der Novemberpogrome sendet der Norddeutsche Rundfunk ein Porträt des Poetry-Slammers David Friedrich. Darin erzählt der “Künstler” auch über seinen Kampf gegen die Depression – und leistet sich dabei eine Bauchlandung: aus seiner “dünnen Haut” würden Kindergarten-Schüler Lampione basteln. Der Sender, angesprochen auf diese bestenfalls ungewollte Provokation, hat reagiert, und mimt die Ahnungslosen!

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Auf der Seite des öffentlich-rechtlichen, gebührenfinianzierten Senders Norddeutscher Rundfunk erscheint am 3. November – nur wenige Tage vor dem Jahrestag der Novemberpogrome von 1938 ein Bericht über den Poetry Slammer David Friedrich, dem Shootingstar der Szene und “Poetry Slam Meisters”. Seine preisgekrönte Entgleisung ist an Menschenverachtung und Geschichtsvergessenheit kaum zu übertreffen:

Heute war ein guter Tag. Heute hatte ich keine Probleme aufzustehen. Ich hab sogar geduscht. Mir einen Toast mit Marmelade gemacht. Ich hab nur zweimal davon abgebissen, aber immerhin. Gestern war kein guter Tag. Als das kleine Handtuch, das zum Händewaschen neben dem Waschbecken (hängt), beim dritten Versuch, es aufzuhängen, wieder runtergefallen ist, bin ich zusammengebrochen. Meine Haut ist so dünn. In der Kita würden sie kleine Laternen aus mir basteln, weil das Kerzenlicht so schön durchflackern würde.

Quelle: Mitschrift der 25. Deutschsprachigen Poetry Slam-Meisterschaften, in der Meistersingerhalle in Nürnberg, 09.10.2021, wiedergegeben auf YouTube

Ich bin Jude. Ich bin der Sprössling zweier Überlebenden des Holocausts. Ich bin entsetzt, darüber, dass in der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts ein junger Mensch – Jahrgang 1991 – etwas so Geschichtsvergessenes wiedergeben darf und dafür auch noch ausgezeichnet wird. Es mag sein, dass er sich der Ungeheuerlichkeit nicht bewusst ist – auch wenn mir der Glaube daran fehlt, denn wie sonst wäre diese Assoziation entstanden. Aber er wird auch noch von der Jury belohnt, die vermutlich nicht aus Menschen besteht, die die Schule ohne Abschluss absolviert haben, und daher keine Geschichte gelernt haben.

Nicht zu entschuldigen dann die Fehlleistung des ARD-Senders im hohen Norden, mit fast 3-wöchigen Distanz und Zeit zur Reflexion, diese Passage wiederzugeben. In Bild und Ton! Ich habe den Sender angeschrieben, sobald ich von dieser Entgleisung erfuhr, und verlangte eine Korrektur. Der Sender liess sich länger Zeit mit der Antwort, als es angesichts der Brisanz des Vorfalls angezeigt gewesen wäre. Inhaltlich ist die Antwort für mich absolut indiskutabel:

Sehr geehrter Herr Morvay,

herzlichen Dank für Ihre Zuschrift. Es tut mir sehr leid, dass Sie sich durch das Zitat von David Friedrich verletzt fühlen. Es entstammt dem Text, mit dem er am 9. Oktober in Nürnberg zum Deutschsprachigen Meister im Poetry Slam gekürt wurde. David Friedrich thematisiert darin seine Depressionen und die damit verbundenen Phasen extremer Dünnhäutigkeit. Ich bin mir sicher, dass er mit dem drastischen Bild der Laternen aus seiner eigenen Haut nicht die unfassbaren Verbrechen relativieren will, die Juden im Holocaust angetan wurden. Er bezieht sich vielmehr auf das eigene seelische Leiden infolge des Verlustes seines Bruders und hat damit ein großes Publikum gerührt. Hier der Link zu der zitierten Darbietung beim Finale in Nürnberg:

https://www.youtube.com/watch?v=15mC02-4KXQ

Sollten Sie mit Herrn Friederich direkt in Kontakt treten wollen, stelle ich Ihnen gern den Kontakt her

Quelle: E-Mail von Dr. Claus-Dieter Röck, Redakteur NDR Kultur à la carte, 10.11.2021 18:01 Uhr

Ich meine, der NDR müsste noch einmal darüber nachdenken. Und das schrieb ich auch zurück:

Schade, verfügen Sie nicht über die notwendige Empathie, um die Ungeheuerlichkeit des Vorfalls, selbst nach meiner Intervention, richtig einzuordnen: ob Sie es wahr haben wollen oder nicht, da betreibt einer unter dem Deckmantel der Freiheit der Kunst Holocaust-Relativierung. In der Meistersingerhalle in Nürnberg. Und wir uns tauschen darüber aus, um das Datum des Jahrestages der Reichspogromnacht. Vielleicht denken Sie darüber noch einmal nach?

Quelle: Antwort an den NDR, 11.11.2021 01:54 Uhr

Das sollte ein Gericht prüfen, und zwar dringend!

Über Thomas Morvay 311 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

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