Persönliche Gedanken zu Yom HaSchoah

Trauerflor auf einer Gedenkstatue, erschaffen von Dr. Martin Kizelstein, einem Überlebenden der Shoah, in Erinnerung an die ermordeten Grossväter und Grossmütter im Holocaust. Bild vom 21. April 2020, aus Jerusalem/Israel (Lizenz: imago/ZUMA; Copyright: Nir Alon)

Letzte Aktualisierung am 7. April 2021 durch Thomas Morvay

(Jerusalem/Israel) – Heute Abend beginnt in Israel die Abfolge der Feierlichkeiten, mit der alljährlich den jüdischen Opfern des Holocaust, den Gefallenen in den Kriegen und der terroristischen Angriffen im Land und weltweit gedacht wird, und schliesslich dem Jahrestag der Gründung des modernen Staates Israel. Im Gegensatz zu diesen Erinnerungen an die Verluste von Juden und dem jüdischen Staat, wird in der Erinnerungskultur ausserhalb Israels zunehmend eine Relativierung der Shoah vorgenommen, indem immer lauter an “andere Opfer” erinnert wird. Gegen diese gefährliche Tendenz muss zeitig vorgegangen werden.

Niemand bestreitet, dass unter den Nazis, in Deutschland und woanders, andere Gruppen zu leiden hatten: Sinti und Roma, Menschen mit körperlichen und vorallem geistigen Gebrechen, Homosexuelle und andere. Sie entsprachen genausowenig dem arischen Menschenideal, und sie wurden ebenso ausgegrenzt, verfolgt und vernichtet. Niemand bestreitet sodann die Millionen Opfer unter den kämpfenden Soldaten, aber auch unter der Zivilbevölkerung, die im Krieg umgekommen sind. Und doch, keinen Teil der Menschheit traf der Hass, der systemisch geförderte Wunsch nach Ausrottung mehr als die Juden Europas. Jegliche Relativierung des Leides, das dem Judentum, das uns Juden zugefügt worden war, ist daher abzulehnen.

Niemals darf vergessen werden, dass der Holocaust nichts anderes gewesen war, als der Kulminationspunkt der Geschichte von 2000 Jahren. Die Juden haben Gottes Sohn auf dem Gewissen, sagten die Christen schon sehr früh, und viel zu lange. Mohammed, der Stifter des Islam, postulierte bereits zu Lebzeiten den Gegensatz seiner Glaubensausrichtung gegen das Judentum, zur Zeit seines Konflikts mit den jüdischen Stämmen Medinas. Im Mittelalter wurden Juden als Brunnenvergifter und Verursacher der Pest-Epidemien verschrien und verfolgt, die Inquisition wollte sie zur Abkehr von ihrer Religion zwingen. Eine gesellschaftliche Gleichstellung erreichten Juden in den meisten Ländern Europas erst am Ende der Aufklärung, eine rechtliche Gleichstellung gar erst im 19. Jahrhundert. Und je mehr sie durch Wissenschaft und Kultur ihre Stempel den Gesellschaften aufzudrücken in der Lage waren, umso grösser wurde der Hass auf sie. Das ist keiner anderen gesellschaftlichen – oder etwas moderner ausgedrückt, soziologischer – Gruppierung auch nur annähernd ähnlich ergangen.

Dennoch, es gehört zur historischen Wahrheit, dass die Verwässerung des Gedenkens der Erinnerung an die Opfer, die das jüdische Volk im Holocaust gebracht hatte, bereits im Gründungsdokument des Internationalen Gedenktages an die Shoah, gelegt worden war: die UNO-Resolution 60/7 der Generalversammlung aus dem Jahr 2005 enthielt bereits die Formulierung “the Holocaust, which resulted in the murder of one third of the Jewish people, along with countless members of other minorities”. Offensichtlich war es bereits damals nicht möglich, im Rahmen der Vereinten Nationen eine Mehrheit zu finden, ohne diese Formulierung. Dass die Initiative zu dieser Entschliessung vom damaligen israelischen Aussenminister Silvan Shalom ausgegangen war, muss an dieser Stelle ebenso erwähnt werden. Seither gibt es eben 2 Gedenktage, eine in Israel, und eine in der übrigen Welt. Man kommt nicht um die Vermutung, damit hätte die Welt sich schon wieder aus der Verantwortrung gestohlen: seht her, es gab doch auch andere Opfer. Als ob das etwas an der Schwere der Schuld veränderte!

In den vergangenen Jahren konnte man diese Entwicklung besonders bei der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) beobachten. Diese, aus der in UNO-Resolution erwähnten International Task Force (ITF) hervorgegangene, in Berlin ansässige Vereinigung ist einer breiten Öffentlichkeit in jüngster Zeit durch ihre “Arbeits-Definition des Antisemitismus” bekannt geworden. Besonders während den beiden deutschen Präsidialjahren wurde im Rahmen der IHRA die Ausweitung der Erinnerung an die Opfer anderer Gesellschaftsgruppen voran getrieben.

Daher ist es auch nicht verwunderlich, wenn das Vorgehen auch anderswo Nachahmer findet. Jüngstes Beispiel ist die in dieser Woche erlassene Proklamation des US-Präsidenten Joe Biden, die im ersten Absatz folgendes besagt:

On Yom HaShoah — Holocaust Remembrance Day — we stand in solidarity with the Jewish people in America, Israel, and around the world to remember and reflect on the horrors of the Holocaust. An estimated six million Jews perished alongside millions of other innocent victims — Roma and Sinti, Slavs, disabled persons, LGBTQ+ individuals, and others — systematically murdered by the Nazis and their collaborators in one of the cruelest and most heinous campaigns in human history.

Quelle: White House

Nein, der Gedenktag findet in Israel statt, er erinnert ausschliesslich an die ermordeten Juden! Warum konnte der US-Präsident – angeblich ein Freund Israels – diese Proklamation nicht am 27. Januar erlassen? Man ist mehr als verärgert!

Vorige Woche veröffenlichte eine Gruppe von Akademikern – es ist wichtig, dass man an dieser Stelle klar und deutlich sagt, es sind keine ungebildeten Leute, im Gegenteil – ihre Kritik und “Verbesserungsvorschläge” zur IHRA-Definition. Es ist nichts anderes, als der Versuch einer Aushebelung einer Definition, die seit ihrer Veröffentlichung immer breitere Anerkennung fand und zum “Gold-Standard” geworden war. Hauptkritikpunkt der Wissenschaftler: die IHRA-Definition schränke legitime Kritik an Israel ein. Schon komisch, dass niemandem aufgefallen ist, wie die Gruppe sich selbst ad absurdum führt, ist es doch eines der Wesensmerkmale von Antisemitismus, wenn an Juden und Israel Massstäbe angelegt werden, die sonst bei keiner anderen Gruppe von Menschen angewandt werden. Und so wirklich gelingt es der Gruppe auch nicht zu erklären, worin sich die Aufforderung zum Boykott von Gütern, aber auch Kultur und Wissenschaft in Israel, von den “Kauft nicht bei Juden!”-Aufforderung der Nazis unterscheidet.

Über Thomas Morvay 311 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

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