Netanyahu abgewählt – das Ende einer Ära in Israel?

Letzte Aktualisierung am 3. Juni 2021 durch Thomas Morvay

(Jerusalem/Israel) – Gestern Abend, wenige Stunden vor Ablauf der 28-tägigen Frist seines Mandates zur Regierungsbildung, konnte Oppositionsführer Yair Lapid dem noch amtierenden Staatspräsidenten den Erfolg seiner Bemühungen vermelden: ein Bündnis von insgesamt 8 Parteien verfügt über 61 Mandate in der Knesset, dem israelischen Parlament. Noch muss das neue Bündnis formell die Vertrauensabstimmung gewinnen, und die Mehrheit ist denkbar knapp: springt nur ein einziger Abgeordneter ab, wäre die neue Regierung gescheitert. Doch für den Moment zählt nur eines: Israel hat eine neue Regierung. Und Naftali Bennett ist am Ziel seiner Träume, er dürfte der neue Ministerpräsident sein.

עלי בידי – ich habe es geschafft, tweetete Yair Lapid gestern Abend. Am Ende überwog der Wille und die Erkenntnis, dem Wähler keinen fünften Urnengang zumuten u wollen: das wohl bunteste aller Regierungsbündnisse in Israel, eigentlich nur vereint in der Absicht, den am längsten amtierenden Ministerpräsidenten in der Geschichte des jüdischen Staates abzulösen, fand zusammen. Mit Naftali Bennett, dem Vorsitzenden der Partei Yamina, kommandierte Ehre zuteil, mit nur 6 Mandaten als Erster das Amt des Ministrpräsidenten zu bekleiden. Das war der Preis, den der Oppositionsführer Yair Lapid und seine 17-köpfige Gruppierung Yesh Atid, zu bezahlen hatte, um ein Scheitern abzuwenden. Der Träger einer gehäkelten Kippa hatte 2008 als Stabchef des damals um eine Rückkehr an die Macht kämpfenden Netanjahu, sich mit diesem überworfen – vielleicht war tatsächlich Sara Netanjahu an seinem Abgang schuld – bekleidete in den letzten 12 Jahren verschiedene Regierungsposten.

Jede Regierungsbildung in Israel ist ein Feilschen um Positionen. Doch die mehrdimensionale Schachpartie ist um ein weiteres Novum reicher in der Geschichte des Landes: in der Person des Mansur Abbas, dem Chef der islamistischen Ra‘am, einer Splitterpartei der arabischen Israeli, gelang es, mit dem absoluten Minimum von 4 Mandaten, sich zum Zünglein an der Waage hochzustilisieren. Damit partizipiert zum ersten Mal eine Vertretung der 20% der Bevölkerung an der Macht. Das ist gerade jetzt, in den Tagen und Wochen nach den massivsten Ausschreitungen zwischen jüdischen und israelischen Israeli, wichtiger denn je: die seit Jahren tobende Banden-Kriminalität, schlug jüngst in den gemischten Städten in Gewalt zwischen Juden und Arabern um, wie man sie seit der Staatsgründung nur selten erlebt hatte. Doch die arabischen Israeli sind mindestens so gespalten, wie ihre jüdischen Mitbürger, gerade dies hat die Abspaltung von Ra‘am aus der Vereinigten Arabischen Liste hervorgebracht.

Zu den Koalitionären zählen Blau-Weiss, die Partei des noch amtierenden Verteidigungsministers Benny Gantz, Neue Hoffnung, die Gruppierung um den Likud-Abweichler Gideon Sa‘ar, die Arbeitspartei (ein Schatten der vormals staatstragenden ersten Regierungspartei Israels) unter Führung von Merav Michaelis, die linksextreme Meretz unter Nitzan Horowitz, sowie Yisrael Beytenu von Avigdor Libermann, dessen Ausscheiden aus der Koalition im Spätherbst 2018 den Reigen von bisher 4 Wahlgängen notwendig gemacht hat. Es ist schlicht ein Rätsel, wie eine so divers zusammen gesetzte Regierung ein kohärentes Programm auf die Beine stellen konnte – geschweige denn diesen auch wird umsetzen können. Doch Israel ist das Land, wo Unmögliches möglich gemacht wird, das Land der Hoffnung und Optimismus. Die Bestätigung und Vereidigung der neuen Regierung im Parlament könnte sich noch bis zu 2 Wochen hinziehen.

Über Thomas Morvay 311 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

2 Kommentare

  1. Wie auch t-Rump will Netanyahu nicht akzeptieren, dass ihn die israelische Mehrheit nicht mehr als PM wünscht. Geh endlich, dajenu!

    Israel muss nun die 12 Jahre, in denen Netanyahu die sozialen Errungenschaften, die medizinische Versorgung and die Erziehung vernachlässigt hat, korrigieren.

    Dasselbe gilt auch für das Aussenministerium und sogar für die IDF.

    Es ist eine Schande, dass er versucht die neue Regierung zu verhindern und die Spaltung von Israel noch zu intensivieren.

    • Genauso, wie ich nicht zu denen gehörte, die „aber Bush“ oder „aber Obama“ geheult haben, werde ich mich nicht mit jenen in einer Reihe stellen, die jetzt „aber Netanjahu“ schreien werden. Zumal: man beachte das Fragezeichen im Titel meines Beitrages. „Nur nicht Bibi“ ist kein Programm!

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