Netanjahu scheitert mit Regierungsbildung – schlägt nun die Stunde Lapids?

Wahlplakate in Jerusalem, vor dem Wahltag vom 23. März 2021- folgt auf Netanjahu nun Lapid? Copyright Debbie Hill, imago / UPI

Letzte Aktualisierung am 6. Mai 2021 durch Thomas Morvay

(Jerusalem) – Letzte Nacht, um punkt Mitternacht, stand fest: es ist Benjamin Netanjahu nicht gelungen, in der Frist von 28 Tagen eine mehrheitsfähige Regierung zu bilden. Entsprechend gab er das Mandat zurück. Keine 24 Stunden später erteilte nun Staatspräsident Reuven Rivlin dem Oppositionsführer Yaïr Lapid den Auftrag, ebenfalls innerhalb von 28 Tagen eine Koalition zu schustern, welche im Parlament über mindestens 61 Sitze verfügt. Scheitert auch dieser, geht der Auftrag an die Knesset, und die Aussichten auf einen fünften Urnengang steigen.

Seine Gegner sind sich einig, und damit machen sie es ihm ziemlich einfach, Wahlkampf zu betreiben. “Nicht-Bibi” ist ein Schlachtruf, hinter den sich so verschiedene Gruppierungen und Gallionsfiguren scharen können, wie der Egozentriker und sich vom Weggefährten zum sprachgewandten Widersacher entwickelnde Naftali Bennett, der den Dritten Weg – zwischen links und rechts – propagierende, ehemalige Journalist und Fernsehmoderator Yair Lapid oder der neue Hoffnung verheissende ex-Likudnik Gideon Saar, der schon einmal mit dem Versuch scheiterte, den noch geschäftsführend amtierenden Regierungschef als Parteivorsitzenden vom Thron zu stossen. Erstmalig in der israelischen politischen Landschaft konnte sich in diesem Dunstkreis sogar ein Islamist Hoffnungen darauf machen, ein “Königsmacher” zu werden: Mansour Abbas, der zuvor neben den schillernden Figuren Ayman Odeh und Achmed Tibi innerhalb der Vereinigten Arabischen Liste zu verblassen drohte. Unbedeutsam bleibt die neueste Inkarnation der linken Hoffnung, die Feministin Merav Michaeli, welche die ehemalige staatstragende Arbeitspartei aus der Bedeutungslosigkeit herausführen soll. Nicht viel besser ergeht es schliesslich dem Meretz-Anführer Nitzan Horowitz, der sich im letzten Wahlkampf zur Aussage verstieg, Israel sässe in Den Hague zu Recht auf der Anklagebank.

Im Grunde machen sie es ihm allesamt sehr einfach, den nun seit zwei Jahren an Ort und Stelle tretenden Ablösungsprozess hinauszuzögern. Der in der Geschichte des modernen Staates Israel am längsten regierende Benjamin Netanjahu braucht nur seine Erfolge aufzuzählen. Er kann Wahlkampf machen mit dem Bild eines erfolgreichen, oder zumindest bewährten und erfahrenen, Lotsen respektive. Flugkapitäns, welcher schon mehrfach bewiesen hatte, dass unter seiner Führung der Flieger nicht nur abhebt, aber auch zielgerichtet in eine Richtung zu fliegen vermag. “Ihr wollt doch die Geschicke Israels nicht den unerfahrenen, ja sogar schon gescheiterten Bruchpiloten überlassen”, konnte er im Rahmen einer Wahlveranstaltung der renommierten Jerusalem Post fragen. Weil sie doch allesamt bloss in seinem Schatten Politik gemacht haben, in mehr als 10 Jahren seit Netanjahus Wahlsieg von 2009. Er zog sie zu sich herauf, liess sie in seinem Sonnenstrahl glänzen – und hielt sie letztlich unter sich, bestenfalls als Ausführungsgehilfen.

Gewiss, “Nicht-Bibi” ist ein starker Schlachtruf. Er vermochte schon zum zweiten Male dafür zu sorgen, dass Netanjahu keine regierungsfähige Mehrheit fand. Doch was er dem entgegensetzte, war eben bisher stärker: sein Machterhaltungsreflex. Er befähigte ihn, Erfolge für sich zu verbuchen, weil er zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Weil er vermitteln konnte, dass nur er aus einer Position der Stärke heraus agiert, während alle anderen bloss mitschwimmen, zeitweilig sogar sichtbar an der Oberfläche. Aber eben nur aus seinen Gnaden, nur solange er sie neben sich erduldet. Und dies ist am Ende des Tages eben zu wenig. Und so übertrumpft Machterhalt den Willen, mal etwas anderes zu probieren. “Nur-Bibi” reicht nicht zum regieren.

Über Thomas Morvay 310 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

3 Kommentare

  1. Die grosse Mehrheit der Israelis freut sich, dass endlich eine neue Regierung zustande kommen wird, ohne Netanyahu. Eine Regierung die endlich wieder Israel zu einer liberalen Demokratie zurück bringt. Eine Regierung die zu neo-faschistischen Tendenzen des israelischen rechten Blocks auf Distanz geht.

    Eine Regierung, die Israel und seinen Bürgern die sozialen Errungenschaften von früher zurückbringt, und die Sicherheit gewährleistet. Eine Regierung, die das Aussenministerium endlich aufwertet. Eine Regierung ohne verurteilte und noch zu verurteilende Kriminelle, die Israel betrogen haben.

  2. So weit war ich nicht bereit zu gehen, lieber Alex: aber es sei Dir unbenommen, Dich heute bereits festzulegen, dass Lapids Versuch von Erfolg gekrönt sein wird.

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