Kommentar: 50 Jahre Olympia-Attentat

Letzte Aktualisierung am 5. September 2022 durch Thomas Morvay

Es war ein “November 1963-Moment” für jene, die beim Kennedy-Mord zu jung waren. Für mich, als damals noch ziemich unreifen 15-jährigen Teenager war es vielleicht der Moment, als mir bewusst wurde, mit welchen Anfeindungen ich als Jude leben muss, die Erkenntnis dass es Menschen gibt, deren Hass sich an meiner Religionszugehörigkeit entzündet. Aber ich hätte nie gedacht, dass es solange dauern würde, bis sich Deutschland zu seiner Verantwortung bekennt.

Voller Entsetzen und ungläubig starrte ich – wie wohl sehr viele andere, die in jenen Tagen einfach nur Sport auf Weltklasse-Niveau geniessen wollten – auf den TV-Apparat, den wir erst kurz davor erworben hatten. Ich war 15, hatte eben erst begonnen, ein politisches Bewusstsein zu entwickeln. In tragischer Weise wurde mir vor Augen geführt, was meine Eltern schon immer gesagt haben, was die Lehre ihres Lebens aus der Schoa war, und zugleich die kollektive Erfahrung von fast 2’000 Jahren jüdischer Geschichte: es gibt Menschen, die mich so hassen, dass sie bereit sind, mein Leben auszulöschen, bloss weil ich anders bin.

Zugleich war es für mich unerklärlich, wie “Deutschland” dermassen versagen konnte. Das absolute Fiasko auf dem Flugfeld in Fürstenfeldbruck war nicht erklärbar, unabhängig davon, wie wenig wir damals von den Versagen im Hintergrund gewusst hatten. Elf tote Juden, aneinander gefesselt zu ihrer Hinrichtung getrieben, auf deutschem Boden, im Zielfernrohr dutscher “Scharfschützen”. Das war an Deutlichkeit nicht zu überbieten! Und es blieb nicht erklärbar, u.a. weil sich der deutsche Staat während eines halben Jahrhunderts weigerte, Verantwortung zu übernehmen. Auch dann, als nach 40 Jahren ein Teil der israelischen Archive offen gelegt wurden. Die geheimen Beratungen des israelischen Kabinetts, die Meldungen des zum tatenlosen Beobachter degradierten Mossad-Chefs Zamir, die vorgeschobenen Gründe, weshalb die Spiele fortgesetzt werden mussten: das deutsche Fernsehen hätte nichts zu senden gehabt, ohne Olympia.

Selbst gestern noch, als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, beim Empfang des israelischen Staatspräsidenten Yitzhak Herzog davon sprach, dass sich der deutsche Staat “seinem Teil der Verantwortung” stellte. Was heisst denn das, jenseits der Tautologie, dass natürlich die palästinensisch-arabischen Attentäter in erster Linie für das Massaker an den 11 israelischen Sportler die Schuld tragen? Wie konnte es sein, dass es dieser “deutsche Staat” zuliess, dass sich an der Frage einer angemessenen Entschädigung für die Hinterbliebenen ein absolut unwürdiges Geschacher entfachen konnte, dass erst die klare Drohung, dem Gedenken in München heute fernzubleiben diese “Einsicht” gebracht hatte?

Es soll nun eine Historiker-Kommission aus beiden Ländern eingesetzt werden, denen sämtliche Unterlagen zur Verfügung stehen würden. Wirklich alle?

Joachim Herrmann, the top security official in the southern German state, said Thursday that Bavaria will no longer keep any files under wraps, but conceded that federal authorities might still hold confidential files.

Bericht von Associated Press, vom 2. Juni 2022

Was kann nach 50 Jahren so sensitiv sein, dass es weiter unter Verschluss gehalten werden muss? Nachdem in diesen Tagen sämtliche je erstellten Dokumentationen ad nauseam im deutschen Fernsehen gezeigt wurden? Es bleibt bei mir der schale Nachgeschmack, die Erkenntnis aus 50 Jahren Lebenserfahrung: es kann noch immer sehr unappetitlich werden, wenn Deutsche sich ihrer Verantwortung bewusst werden – wenn es um uns Juden geht. Eigentlich traurig, unendlich traurig!

Über Thomas Morvay 326 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

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