Jom HaSchoa – weil es niemals Routine werden darf!

Den Toten ein Gesicht geben - in der Halle der Namen finden sich auch Bilder der Ermordeten. Seit 1999 werden die Dokumente gescannt und computerisiert. Lizenz: imago images; Copyright: Chen Junqing PUBLICATIONxNOTxINxCHN

Letzte Aktualisierung am 17. April 2023 durch Thomas Morvay

Jerusalem – Einer aktuellen Veröffentlichung zufolge leben noch fast 150’000 Menschen in Israel, die das Jahrhundertverbrechen der Auslöschung des europäischen Judentums überlebten. Der jüdische Staat und viele Juden in aller Welt, gedenkt auch ihrer am 27. Nisan des jüdischen Kalenders, wie auch den sechs Millionen, die nicht zurückkamen aus den Todeslagern.

Es ist für mich sehr persönlich: die Listen von Yad Vashem führen auch die Namen meiner Grosseltern, zusammen mit Dutzenden von Gross- und Urgrosstanten und -onkeln, die ich nie kennenlernen durfte. Während die allermeisten meiner Schulkameraden die liebende Fürsorge von “Grosi” genossen, habe ich nur verschwommene Erinnerungen an eine kränkelnde, greise Frau, der Mutter meines Vaters, die als einzige noch in meiner Kindheit am Leben war. Erinnerungen auch an das Tabu des Nicht-Fragen-Dürfens, ans Schweigen meiner Mutter, das erst an ihrem Lebensende durchbrochen wurde. Und wo fast jedes unserer Gespräche an der Rampe in Auschwitz endeten, am 15. Juni 1944 – dem Tag, der ihr Leben durchschnitt. Es gab die heile Welt davor – und eigentlich fast nichts mehr danach, in der irrationalen Erinnerungswelt der Altersdemenz.

Transgenerationale Traumata, so bezeichnet sie die Wisssenschaft, die auch Teil meines Lebens sind. Natürlich sind sie längst aufgearbeitet, so wie meine Mutter die jähe Trennung von ihren Eltern aufgearbeitet hatte. Weil sie ansonsten niemals hätte weiterleben können. Und weil es mich wohl nie gegeben hätte, wenn sie dafür nicht einen Platz gefunden hätte, an dem die Erinnerung ruhte. Bis sie, an einem Tag im Jahr hervorgeholt wird – am Tag des Gedenkens. Als erwachsener Mensch erlebe ich auch alljährlich jenen Moment, wo in Israel für zwei Minuten alles stehen bleibt und die Sirenen heulen. Und im siebten Jahrzehnt meines Lebens kämpfe ich noch immer damit, diese irrwitzige Zahl von sechs Millionen in meinem Kopf zu haben. Die Absurdität, was gewöhnliche Menschen ihren Nachbarn vor nunmehr 80 Jahren angetan haben. Wie könnte sie jemals “normal” werden!

Gedenken, das ist niemals Routine. Und wenn wir das ein Mal vergessen sollten, die brutale Wirklichkeit gemahnt sie in uns. Zuletzt vor etwas mehr als Wochenfrist. Und wieder in Berlin! In Neukölln und Kreuzberg zogen verblendete, hasserfüllte Idioten durch die Strassen, schrien “Tod den Juden!” und “Tod Israel!” – und geschichtsvergessene Polizisten standen daneben und schauten tatenlos zu! Das ist der Grund, warum das Gedenken niemals zur Gewohnheit werden darf. Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich heute schon wieder erschreckend real!

Über Thomas Morvay 310 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

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