Israels Premier vor Gericht

Letzte Aktualisierung am 23. Mai 2020 durch Thomas Morvay

Heute Abend beginnt in Israel eine neue Woche. Und von morgen früh an könnte in Israel eine neue Epoche anbrechen: zum ersten Mal in der Geschichte des Landes steht der amtierende Regierungschef unter Anklage und damit vor Gericht. Doch, angeklagt ist nicht schuldig gesprochen, und so darf er, nach einem Urteil des Obersten Gerichts, nicht nur gemäss dem Koalitionsvertrag die ersten 18 Monate regieren, er wird auch in der zweiten Hälfte der rechtmässige Stellvertreter seines Partners Benny Gantz bleiben.

Die Anklage wirft Benjamin Netanjahu Bestechung, Betrug und Machtmissbrauch vor. Nach Jahren der Voruntersuchungen landen konkret 3 Fälle zunächst vor dem Jerusalemer Bezirksgericht. Ob es hier, oder auf dem weiteren Weg bis zum Obersten Gericht je zu einem Urteilsspruch kommen wird, ist dennoch ungewiss. Gerade durch sein jüngstes Urteil hat nämlich das Oberste Gericht die Büchse der Pandorra geöffnet: weil der Regierungschef sein Amt weiterhin ausüben darf, stellen sich Fragen nach der Würde und dem Ansehen des Staates Israel, zuhause wie auch in der Welt. Und juristisch geht es nicht bloss um strafrechtliche Konsequenzen, aber auch um verfassungsrechtliche Fragen, welche im Grunde seit der Staatsgründung auf eine Auflösung warten. Seit drei Jahrzehnten tobt auch ein erbitterter Streit um die Gewaltentrennung, und auch dieser Streit dürfte massiven Einfluss auf die Entscheidungswege und die Urteilssprechung im Prozess gegen Netanjahu haben.

Im Fall 1000 wird dem Regierungschef und Mitgliedern seiner Familie vorgeworfen, über Jahre hinweg teure Geschenke vom Hollywood-Mogul Arnon Milchan und dem australischen Milliardär James Packer angenommen zu haben. Die Deliktsumme soll sich auf fast 200’000 Dollar belaufen – im kleinen Israel eine erkleckliche Summe, wenn man bedenkt, dass es sich um “Kisten von Zigarren und Champagner” handeln soll. Als Gegenleistung soll der Premier sich im Sinne der grosszügigen Spender verhalten haben, wie in der Anklageschrift steht.

Ein anderes Kaliber ist die Anklage im Fall 2000: Netanjahu soll sich über Jahre für Gesetze stark gemacht haben, welche dem Hauptaktionär der Zeitung Yedioth Ahronoth Arnon Mozes Vorteile brachten, und dabei dem Konkurrenzblatt Israel Hayom zum Nachteil gereichten. Im Gegenzug soll die Berichterstattung in Yedioth zugunsten des Regierungschefs angepasst werden. Tatsächlich war im fraglichen Zeitraum auch ein Gesetz in Vorbereitung, welches darauf abzielte, die Zirkulation der Gratiszeitung Israel Hayom einzuschränken. Doch aus dem Entwurf wurde nie ein Gesetz, unter anderem deswegen weil, wie Netanjahu behauptet, an seinem Widerstand gegen das Gesetz seine Regierung 2015 zerbrach. Israel Hayom wird finanziert durch einen der grössten Supporter Netanjahus, Sheldon Adelson.

Im Mittelpunkt von Fall 4000 steht die grösste Telekommunikationsfirma Bezeq, dessen Hauptaktionär Shaul Elovitch und das Flagschiff der Gruppe, das Onineportal Walla. Auch Walla soll dazu genötigt worden sein, seine editoriale Linie zugunsten von Netanjahus Regierung zu ändern. Der Regierungschef soll im Gegenzug sich bei der Regulierung der Medien in für Bezeq günstigen Weise verwendet haben, was dem Eigentümer wiederum erhebliche finanzielle Vorteile gebracht haben soll.

Benjamin Netanjahu, wie auch die Mitangeklagten Arnon Mozes und Shaul Elovitch, bestreiten die Anklagepunkte. In einem letzten Gefecht vor Prozessbeginn versuchte der Regierungschef erfolglos durchzusetzen, dass er der Verlesung der Anklageschrift am morgigen Sonntag fernbleiben darf. Immerhin: er wird erst auf der Anklagebank seinen Platz erst einnehmen, nachdem Journalisten und Pressefotografen den Gerichtssaal verlassen haben.

Die Anklagen gegen Netanjahu sind zumeist als der Angriff von links auf den erfolgreichen Likud-Politiker dargestellt worden. In diesem Denkschema ist von der Gegenseite die fortschrittliche Judikative zum Gegenspieler der Legislativmacht hochstilisiert worden. Es ist der stets gleiche Trick in die Mottenkiste: sich als armes Opfer der ach-so-bösen Gegner zu präsentieren. Man kann sich dabei des Eindrucks nicht erwehren, beide Seiten befürchteten, ihre hehren Kampfziele seien gegen den mit allen Wassern gewaschenen Gegnern nicht genug, und man bedürfe schon deswegen der Überzeichnung, der Dämonisierung des Gegners und seiner Verfehlungen. Und keine Seite merkt, wie sie sich damit nur herabwürdigt, und sich und seine Positionen schwächt.

Über Thomas Morvay 311 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

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