In eigener Sache – in memoriam meiner Mutter

“There isn’t death. How can there be death if everything is part of the Godhead? The soul never dies and the body is never really alive.“

Das ist ein Zitat von Isaac Bashevis Singer, dessen Bücher sie liebte. Zugleich beschreiben sie sie perfekt, und sie sagen uns, warum wir heute hier sind.

Meine Mutter erblickte das Licht dieser Welt am 11. Februar 1923, im II. Bezirk der ungarischen Hauptstadt Budapest. Dort wurde sie auch eingeschult, verliess jedoch in der Weltwirtschaftskrise ihr Geburtshaus, als ihr Vater in Salgótarján Anstellung als kaufmännischer Leiter eines Kohlebergwerks fand. Hier legte sie auch die Matura ab, was allerdings schon in die Kriegsjahre fiel, als die Ausgrenzung der Juden auch in Ungarn begonnen hatte.

Es folgten die wohl schwierigsten Jahre ihres Lebens, die Entbehrungen und Erniedrigungen in der ungarischen Provinz, durch die immer extremere Gesetzgebung und durch dieselben Nachbarn, mit deren Kindern sie noch wenige Jahre zuvor gespielt hatte. Nachdem ihr Bruder zum sog. Arbeitsdienst „eingezogen“ wurde, war sie dann die Einzige, die das Haus verliess, um die täglichen Besorgungen zu erledigen. Sie trug den gelben Stern, damit ihren Eltern diese Erniedrigung erspart blieb. Am 13. Juni 1944 musste sie dann, mit ihren Eltern, und mit allen anderen jüdischen Bewohnern des Ortes zum Sammelplatz. Sie wurden in Viehwaggons verladen, welche dann während 3 Tagen unterwegs zu ihrem Ziel waren.

Als ich Kind war, durfte ich keine Fragen stellen, ich erfuhr entsprechend nur wenig über ihre Kriegserlebnisse. Sie überlebte Auschwitz, Bergen-Belsen und Theresienstadt, und kehrte 1945 für kurze 2-3 Wochen auf das Gelände des Bergwerks zurück. Sie ertrug es nicht, unter den Tätern zu leben und flüchtete zu ihrem Bruder nach Budapest. Im hohen Alter, als die Verdrängung dann nicht mehr funktionierte, gab es eine Zeit, da endete jedes unserer Gespräche an jenem 16. Juni 1944, auf der Rampe in Auschwitz. Ich versuchte sie durch diese Gespräche zu begleiten, sanft – und ich gebe zu, manchmal auch weniger sanft – in die Gegenwart zurück zu holen. Leider war das nicht immer möglich, und dann musste ich sie erschöpft und auch verzweifelt zurücklassen, im Holbeinhof. Ihre späten Worte verstehe ich als Vermächtnis und Verpflichtung. Es ist meine Pflicht zu sprechen, für die 6 Millionen, für die Grosseltern die ich nie hatte, und für sie, der das Unfassbare die Sprache geraubt hatte.

1947 traf sie den Mann, den sie ein Jahr später heiratete. Während 65 Jahren meisterten sie ihr Leben miteinander, füreinander. Und ich werde jene Mittagsstunde niemals vergessen, 6 Wochen nach dem Tod meines Vaters, wo sie kaum je ihr Zimmer verliess, als sie mich mit den Worten empfing: «Lass uns zusammen am Barfi Kaffee trinken!» Sie hatte sich für das Leben entschieden! Familie war alles für meine Mutter. Und so empfing sie die Frau, die während einigen Jahren meine Ehefrau war, mit derselben unendlichen Liebe und Zuneigung, die sie mir gegenüber empfand. Und sie behielt sie in ihrem Herzen auch dann, als ich meinen Lebensweg allein weiterführte. Meine Frau dankte es ihr, indem sie bei ihren jährlichen Besuchen in der Schweiz stets über Basel einreiste, um ihr einen Besuch abzustatten. Sie ist auch heute, im Geiste mit uns, auch wenn ihre physische Präsenz durch die Pandemie faktisch verunmöglicht worden ist. Häsi, merci, ‘ass Du da bisch!

Die 50 Jahre in der Schweiz, die Strapazen und das Mühsal, das meine Eltern in Kauf nahmen, um mir ein Leben in Freiheit zu ermöglichen, lebte meine Mutter ohne Klagen. Sie tat ihr Bestes, um mir die ersten Jahre dieses Lebens in einer fremden Welt leichter zu machen. Sie sass mit mir, und versuchte daraus schlau zu werden, was ich am Morgen von der Wandtafel abgeschrieben habe, als ich noch kein Wort Deutsch verstand. In ihrem Herzen blieb ich stets der kleine Junge, der nur mit Stoffwindeln bekleidet seinen Weg auf allen Vieren in die winzige Küche fand, nur um in der Nähe seiner Mutter zu sein.

Meine Eltern reisten viel, allerdings nur in Europa. Sie liebten die Riviera im Frühling, Paris und Amsterdam, Wales und auch London, wo sie alte Freunde treffen konnten. In Venedig habe ich einmal an Silvester mit meiner Mutter Walzer getanzt, auf dem Markusplatz. Den einzigen Abstecher auf einen anderen Kontinent taten sie mit mir zusammen, 1986 nach Israel. Und meine Mutter weinte, als der Pilot über den Bordlautsprecher bekannt gab, dass wir nun im israelischen Luftraum wären. Für sie, die stets überzeugt war, dass ihre Eltern starben, damit der moderne Staat Israel hat gegründet werden dürfen, war es ein wahres Wunder, was sie dort zu sehen bekam. Das Foto, dass ich vor der Klagemauer in Jerusalem von den Beiden geschossen habe, gehört bis heute zu meinen Lieblingsbildern. 2007, es war wirklich die letzte Gelegenheit, nahm ich meine Eltern nochmal mit, für 10 Tage nach Teneriffa. Und ich Naivling habe mir eingebildet, ich könnte die Medikamentendosierer für sie beide verwalten. Nach einem halben Tag hatte sich meine Mutter den beiden Behältnissen bemächtigt, und während einer Woche ein heilloses Durcheinander vollbracht – zum Glück ohne negativen Folgen. Soviel zum Thema „der erwachsene Sohn ermöglicht seinen Eltern ein paar unbeschwerte Tage im ewigen Frühling der Kanaren“.

„De anyukám, az életed legnagyobb részét a háború után élted. És abban annyi sok szép és jó dolog volt! Gondolj arra is.“ Das war mein armseliger Versuch, in ihren letzten Lebensjahren, als sie sich zunehmend aus der Gegenwart zurückzog, als selbst das Radio nur noch Geräuschkulisse geworden war, eine andere Perspektive aufzuzeigen. Und das mündete dann in dem von mir so ungeliebten Spruch, mit dem sie aber ihr innigstes Gefühl verband: „… és tudod, hosszú 9 évet kellett várnom, míg végre itt voltál!“ Ja, ich teile dieses Schicksal mit so vielen anderen, die eben die „Antwort“ auf Hitler waren. Das ist ihr Vermächtnis. Und sie hat aus mir den Menschen geformt, der ich geworden bin. Sie hat mir stets Lebensbejahung vermittelt. Und mir auch ihren unbändigen Lebenswillen vererbt, mit dem sie auch im hohen Alter ihren Alltag meisterte. Selbstbestimmt, bis zum letzten Atemzug, davon bin ich überzeugt.

Eine starke Frau, die gelebt hat, wie sie es für richtig empfand. In meinem Herzen wird sie ewig da sein.

11.02.1923 – 31.12.2020 רבקה בת אליהו

About Thomas Morvay 345 Articles
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

Be the first to comment

Leave a Reply

Your email address will not be published.


*