Ein Tag voller Emotionen

Warschauer Ghetto-Platz mit Mauer des Gedenkens, Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, Jerusalem, Israel (Photo credit: imago / Schöning)

Letzte Aktualisierung am 27. April 2022 durch Thomas Morvay

Jerusalem/Israel Eine Woche vor den Feierlichkeiten zum Jahrestag der Gründung des modernen Staates Israel, steht die Erinnerung an die Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden, der Jom haScho’a. Wie alle jüdischen Festtage, beginnt auch dieser nach Sonnenuntergang am Vorabend – im aktuellen Jahr am heutigen 27. April 2022. Auf die Zeremonie mit der Entzündung von 6 Fackeln am Abend, folgt am Morgen das Heulen der Sirenen.

Es ist in jedem Jahr ein höchst emotionaler Moment: sechs ausgewählte Personen, üblicherweise selbst Überlebende des Holocausts, entzünden die Fackeln, symbolisch für die 6 Millionen Opfer. In Anwesenheit der höchsten Repräsentanten des Staates Israels: Präsident Jitzchak Herzog, Premierminister Naftali Bennett, und Parlamentspräsident Mickey Levy, des Vorsitzenden der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem Dani Dayan und Vertretern des internationalen diplomatischen Korps in Israel, am Platz des Warschauer Ghettos in Jerusalem, werden auch 2022 die berührenden Lebensgeschichten der sechs Fackel-Entzünders zu hören sein. Das israelische Fernsehen, aber auch in den sozialen Medien, werden die Zeremonie live übertragen.

Nicht weniger eindrucksvoll: am Morgen des Gedenktages selbst, pünktlich um 10 Uhr, steht für 2 Minuten das Leben still in Israel. Wenn die Sirenen ertönen, bleibt praktisch überall der Verkehr stehen, die Menschen steigen aus ihren Fahrzeugen und verharren schweigend. Niemand, der dieses Ritual einmal erlebt hat, wird den Moment je vergessen können: das Sirenengeheul und – scheinbar in starkem Kontrast – die gespenstische Stille, sind ungeheuer starke Symbole der Erinnerung. Gerade in der heutigen Zeit, wo die Zahl der Zeitzeugen bereits drastisch gesunken ist, dient den Nachfahren der Opfer als wichtige Moment der Erinnerung. Die Losung “Nie vergessen!” erhält auch damit einen institutionellen Moment des Gedenkens.

Heute ist es mir ein Bedürfnis, aus Anlass des Tages meinen Grosseltern, die ich nie kennenlernen durfte, hier zu gedenken: Kürschner Ernő (geb. 20. Juni 1887) und Malvin, geborene Weisz (geb. 26. Juni 1892) – beide ermordet am 15. Juni 1944 in Auschwitz, unmittelbar nach ihre Ankunft und Selektion. Ihre Namen sind in Yad Vashem erfasst, wo auch das “Testimonial” meines Onkels hinterlegt ist. Über 7 Stunden hat er, bereits in hohem Alter, Zeugnis abgelegt. Er und meine Mutter haben den Holocaust überlebt, beide sind fast 100-jährig geworden, beiden war es vergönnt, Kinder zu haben. Sie haben Hitler und den Nazis von damals die Antwort gegeben: Am Yisrael Chai – das Volk Israels lebt!

Über Thomas Morvay 311 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

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