Letzte Aktualisierung am 5. August 2021 durch Thomas Morvay
(Berlin) – Überlebende des Holocaust kämpfen bis an ihr Lebensende mit den grauenhaften, quälenden Erinnerungen. Der ehemalige Wachmann jedoch, der ab 1942 während 3 Jahren im Konzentrationslager Sachsenhausen seinen Dienst versah, und den die Staatsanwaltschaft nun ab Oktober 2021, in seinem 101. Lebensjahr, vor Gericht bringt, verbrachte über 75 Jahre unbehelligt und unentdeckt in Brandenburg. Ihm werden nun Beihilfe zu Mord in 3’518 Fällen vorgeworfen. Ein medizinisches Gutachten kam zum Ergebnis, dass der Mann pro Verhandlungstag bis zu 2.5 Stunden dem Prozess folgen könne, somit verhandlungsfähig sei.
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In Deutschland ist die Verfolgung wegen NS-Verbrechen nur noch wegen Mordes oder Beihilfe dazu möglich. Der Wachdienst in einem Konzentrationslager alleine reicht nicht aus. Deswegen hält die Anklageschrift auch fest, der SS-Wachmann habe durch seine Tätigkeit im Hauptlager des KZ Sachsenhausen, im Zeitraum von fast 3 Jahren “wissentlich und willentlich Hilfe zur grausamen und heimtückischen Ermordung von Lagerinsassen” geleistet. Es geht um die Erschiessung von sowjetischen Kriegsgefangenen sowie Tötung von Gefangenen mit dem Giftgas Zyklon B, und auch Durchführung von medizinischen Experimenten an den Häftlingen.
Die Möglichkeit der Durchführung von Prozessen, selbst Jahrzehnte nach den, den Angeklagten zur Last gelegten Taten, ist in der deutschen Rechtssprechung erst seit dem wegweisenden Urteil des Landgerichts II in München möglich. Demnach ist für eine Verurteilung nicht notwendig, Tätern eine individuelle Schuld nachzuweisen. Die Dienstausübung in einem Lager , in dem erkennbar systematisch Massenmord begangen wurde, kann für eine juristische Ahndung ausreichen. Die Anklage wird also nachweisen müssen, dem Angeklagten wäre es bekannt – oder hätte allenfalls bekannt sein müssen – dass im KZ Sachsenhausen zehntausende Häftlinge durch Hunger oder Krankheiten, durch medizinische Versuche und Misshandlungen, sowie im Rahmen systematischer Vernichtungsaktionen umgebracht worden waren.
Ob im Rahmen des Prozesses auch der Frage nachgegangen wird, ob und wie der Mann während über 4 Jahrzehnten unbehelligt in der DDR hat leben können, oder zu welchem Preis er sich seine Freiheit erkauft hat, erscheint eher unwahrscheinlich. Und ob er sich nun, zu spät für die meisten Opfer, zu Reue durchringen oder gar um Vergebung bitten wird, wird der Prozessverlauf zeigen. Der Rechtsstaat schuldet jedenfalls den Opfern, durch die juristische Aufarbeitung, wenigstens eine kleine Genugtuung.
Eine ausgezeichnete sachliche Darstellung ohne ein überflüssiges Wort. Danke.