Dr. Sarah Halimi – eine Neuauflage der Dreyfus-Affäre in Frankreich?

Dr. Sarah Halimi, eine französische, pensionierte jüdische Ärztin, wurde brutal von ihrem Nachbarn misshandelt und mehrere Stockwerke aus ihrem Appartment in den Tod gestossen.

Letzte Aktualisierung am 5. Mai 2021 durch Thomas Morvay

(Paris) – Es war im Jahr 2017, als der brutale Mord an der pensionierten Ärztin die jüdische Welt in Panik versetzte. Dieser Tage jedoch, wurde das erstinstanzliche Urteil gegen den Täter vom Kassationshof bestätigt: dieser wäre im Zeitpunkt der Tat, aufgrund seines fortgesetzten Drogenmissbrauchs, nicht schuldfähig gewesen, bescheinigen mehrere in Auftrag gegebenen Gutachten. Die Öffentlichkeit – nicht bloss jüdische Kreise, aber sogar bis hin zum französischen Staatspräsidenten – können diese Beurteilung nicht nachempfinden und fordern eine Reform der Strafgesetze.

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Dr. Sarah Halimi starb auf äusserst brutale Weise: das Gericht kam zur Erkenntnis, dass der unter Drogen stehende Täter durch das Wissen um die jüdische Religionszugehörigkeit seines Opfers, welche sich insbesondere auch durch gut sichtbare Gegenstände in deren Wohnung in seiner Wahrnehmung manifestierten, daraus seine Motivation zur Tat hergeleitet hatte. Zugleich jedoch argumentierte die Verteidigung, gestützt durch mehrere Gutachten von insgesamt 8 Psychiatern, erfolgreich damit, dass der eindeutig belegte, fortgesetzte Drogenmissbrauch des zur Tatzeit 27-jährigen Arfikaners, seit dessen frühen Teenagerjahren, diesen schuldunfähig werden liess. Daher befand auch der Kassationshof als letzte Revisionsinstanz, dass dem Täter nicht der Prozess gemacht werden könne.

Liest ein juristischer Laie die Begründung der Entscheide, sowohl der unteren, wie auch der Revisionsinstanz, so kann nur der Eindruck entstehen, hier würden sich die Gerichte – und damit der französische Staat – hinter Paragraphen verstecken, aus Angst vor der grössten Minderheit im Lande, den Muslimen. Und sie müssen durch die verkürzte Darstellung in der Berichterstattung zur einfachen Formel gelangen, wonach ein bekiffter Täter zu allem fähig sein könne, nur nicht zur Schuld. Von da ist dann nicht weit, dass man sich auch daran erinnert, dass die Verurteilung eines Juden durch die französische Justiz sich schon einmal sehr prominent als Ausdruck eines systeminherenten Antisemitismus manifestiert hatte: in der sog. Dreyfus-Affäre am Ende des 19. Jahrhunderts, literarisch verewigt im Brief des grossen Schriftstellers Émile Zola.

Ganz so einfach ist es allerdings nicht: es ist beispielsweise absolut unverständlich, weshalb in der Berichterstattung fast komplett ausgeblendet wird, dass der Täter auf mindestens 20 Jahre in der geschlossenen Psychiatrie verwahrt wird, weitestgehend ohne Kontakte zur Aussenwelt. Es geht dabei auch unter, dass die von den Medizinern erstellten Gutachten zum Schluss gelangt waren, der Täter sei vermutlich nicht therapierbar. Dabei gibt es jedoch auch andere Aspekte, die nun wohl kaum eine gerichtliche Beurteilung erfahren werden: es gibt Berichte darüber, dass die Polizei von Nachbarn herbei gerufen wurde, während sich der Täter in der Wohnung von Sarah Halimi aufhielt. Sie hätten gehört, wie der Täter wütete, sein Opfer quälte und dabei wirre Parolen rief – doch sie schritten nicht ein.

Nein, es soll hier nicht als Entschuldigung herhalten, dass in relativ offensichtlicher Weise, bei der Sozialisierung dieses Täters so vieles schief gelaufen war, dass diese Katastrophe nur eine Frage des “wann”, aber nicht des “ob” sein musste. Aber, und daran muss dem französischen Staat, seiner judikativen und legislativen Gewalten, soviel gelegen sein, dass hier ohne sensationslüsterne mediale Nebenwirkung, eben nicht Schnellschuss-artig, wie es auch der Staatspräsident gefordert hatte, im Gedenken an das Opfer, und im Interesse der breiten Öffentlichkeit, der Beweis angetreten wird, dass niemand einfach zur Tagesordnung übergeht. Die Antwort darf nicht zu Symbolpolitik verkommen, indem etwa der Ermordeten gedacht werde, indem man eine Strasse in Paris nach ihr benennt. Und es müssen andere Antworten kommen, aus der Gesellschaft heraus, als dass man die “Irren” wegsperrt, nachdem sie ihre Taten begangen haben, für die sie objektiv nicht zur Rechenschaft gezogen werden können. Das reicht heutzutage einfach nicht mehr! Wir müssen besser sein als das!

Über Thomas Morvay 311 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

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