Deutschland und USA führen Dialog über Holocaustfragen

Es bleibt zu hoffen, dass dieser Dialog nicht bloss Alibiübung bleibt. Das Thema ist leider aktuell genug, und es wäre übertrieben zu behaupten, die Akteure hätten sich mit Ruhm bekleckert!

Letzte Aktualisierung am 5. Mai 2023 durch Thomas Morvay

Washington / Berlin – Es ist kein Verschreiber, sowohl die englische wie die deutsche Pressemeldung verwenden diesen Begriff, der mehr Anlass zu Fragen gibt, als er zur Klarstellung dienen kann. Bald 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges soll es noch offene Fragen zur Schoa geben, über die man zu sprechen hat? Es wird noch schlimmer: das worüber sie anscheinend reden, sind die üblichen Platitüden, mit denen man eben Themen scheinbar behandelt, um ja keine konkrete Handlungen zu planen. Es wird bloss darüber geredet!

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Dass sie die bisherigen Ergebnisse als “bedeutende Fortschritte”, zumal in “drei vorrangigen Bereichen” bezeichnen, gehört zum Standardrepertoire in Pressemitteilungen, wenn vom eigentlichen Thema abgelenkt werden soll: wofür die diversen Damen und Herren während zwei Jahren Sitzungsgelder eingestrichen haben, ist dermassen trivial, dass es schon fast nicht zu rechtfertigen ist!

Thema 1: Förderung innovativer und wahrheitsgetreuer Bildung und Ausbildung in Bezug auf den Holocaust (engl. Promoting Innovative and Accurate Holocaust Education and Training)

Wir haben Holocaust-Bildung in das Leitprogramm für Angewandte Sicherheitsstudien des George C. Marshall European Center for Security Studies eingegliedert. Das Marshall Center wird von den Vereinigten Staaten und Deutschland gemeinsam finanziert und verwaltet. Mehr als 100 militärische und zivile Führungskräfte aus über 30 Ländern nahmen 2022 am Pilotmodul teil, das darauf ausgerichtet war, in einem multinationalen Kontext arbeitendem Fachpersonal zu helfen, Lektionen aus dem Holocaust auf ihre eigene Arbeit zum Schutz von Leben und demokratischen Grundsätzen anzuwenden. Dieses Modul wird zu einem festen Bestandteil des Curriculums der Sicherheitsstudien werden.

We have integrated Holocaust education into the flagship Program on Applied Security Studies at the George C. Marshall European Center for Security Studies.  The Marshall Center is jointly funded and administered by the United States and Germany.  Over 100 senior military and civilian officials from more than 30 countries attended the pilot module in 2022, which was designed to help professionals apply lessons from the Holocaust to their own work of protecting life and democratic principles while working in a multinational context.  The module will become a permanent part of the Security Studies curriculum.

Zitiert aus den Veröffentlichungen der beiden Aussenministerien

Man liest daraus erstaunlich einfach gestrickte Denkweisen. Zumindest solange, bis das blanke Entsetzen dem Staunen ein Ende bereitet. Ist etwa Innovation gefragt, weil die bisherigen Versuche, das Jahrhundertverbrechen den Nachgeborenen zu erklären versagt haben, nichts fruchteten oder waren sie gar nicht praktiziert worden? Und wenn man aktuell nach Wegen zur “wahrheitsgetreuen” Methoden zur “Bildung und Ausbildung” sucht – was war dann der bisherige Weg? Konkret, nachdem während der ersten 20 Jahre das Totschweigen alles überschattete, mogelte man sich anschliessend mit bestenfalls Halbwahrheiten durch den Geschichtsunterricht und öffentlicher Wahrnehmung? Was waren denn die salbungsvollen Reden von Politikern aller Couleurs, das Beweinen von toten Juden an eigens zelebrierten “Tagen des Gedenkens”, wenn man heute plötzlich nach Innovation ruft – wohlgemerkt, auch hierzu braucht man dann nochmal fast 2 Jahre!

Thema 2: Quantifizierung und Einschätzung von Holocaustleugnung und -verfälschung im Internet (engl. Quantifying and Evaluating Holocaust Denial and Distortion Online

Mittels des Dialogs [Anm. der Redaktion: so heisst das gemeinsam ins Leben gerufene Forum: Dialog zu Fragen der Holocaust-Thematik] hat das Außenministerium der Vereinigten Staaten eine wegweisende Studie zu Holocaustleugnung und -verfälschung im Internet erstellt. Dazu wurde Online-Material in 12 Sprachen im Hinblick auf Inhalt, Urheber und Verteilungsmuster von Holocaustleugnung und -verfälschung untersucht, wodurch eine umfassende Übersicht für politische Entscheidungsträgerinnen und -träger entstand. Das Auswärtige Amt hat mit einer ergänzenden Studie zu Holocaustleugnung und ‑verfälschung im Internet begonnen. Die beiden Untersuchungen werden einen Beitrag zu einer auch quantitativ soliden Grundlage leisten, von der aus Empfehlungen für die Politik entwickelt werden.

Through the Dialogue [editor’s note: that’s the name of the entire endeavor: Dialogue on Holocaust Issues], the U.S. Department of State produced a landmark study of online Holocaust Denial and Distortion.  It examined online material in 12 languages to identify content, producers, and distribution patterns of Holocaust denial and distortion, producing a comprehensive survey for policymakers.  The Federal Foreign Office has begun a complementary study of online Holocaust denial and distortion.  The two studies will contribute to a solid, quantitative base from which to develop policy recommendations.

Zitiert aus den Veröffentlichungen der beiden Aussenministerien

Man beachte, dass das US-Aussenministerium bereits ein Ergebnis geliefert hat – auch wenn es anscheinend nicht für die Öffentlichkeit verfügbar zu sein scheint – das Auswärtige Amt hingegen hat erst damit begonnen, daran zu arbeiten. Untersucht werden dabei in “12 Sprachen” die Onlinemedien (sie gelten ja als besonders innovativ). Beide Studien sollen sich ergänzen: die wegweisende (amerikanische) und die – eben erst begonnene – ergänzende (deutsche) Untersuchungen beschäftigen sich ausschliesslich mit den neuen Medien. Auch wenn deren Bedeutung zweifellos in weiten Teilen der Bevölkerung heutzutage hoch signifikant ist, sollte nicht ein Fokus auf die Ausbildungsmittel – früher Schulbücher genannt – gelegt werden? Es wäre schliesslich genauso verkehrt, nur von den “bildungsfernen” Schichten in der Bevölkerung auszugehen, die aktuell “Tod den Juden” brüllend durch Berlins Strassen marschiert sind, unbehelligt von der – hoffentlich – nicht bildungsfernen Polizei!

Thema 3: Bekämpfung und Rehabilitierung derjenigen, die am Holocaust und an Verbrechen der Ära des Holocaust beteiligt waren (engl. Counterring Rehabilitation of those who participated in the Holocaust and Holocaust-era crimes)

Im Rahmen des Dialogs wurde das wachsende Problem der „Rehabilitierung“ von Personen untersucht, die an den Verbrechen des Holocaust beteiligt waren, und eine Studie erstellt, die Regierungen, Partnern der Zivilgesellschaft, nichtstaatlichen Organisationen, Universitäten, einschlägigen Fachleuten und anderen interessierten Parteien zur Verfügung stehen wird, um ihnen zu helfen, das Problem zu verstehen und zu bekämpfen. Diese Rehabilitierung findet in vielen Ländern aus den unterschiedlichsten Gründen statt, die von offensichtlichen Versuchen, aus Schurken Helden zu machen, um aktuellen politischen Zwecken zu dienen, bis hin zu Mangel an historischem Bewusstsein reichen. Unabhängig vom jeweiligen Motiv kann die „Rehabilitierung“ derjenigen, die den Holocaust verübt haben, Straflosigkeit für Kriegsverbrecher befördern, dazu führen, dass Antisemitismus, Rassismus, Diskriminierung und Ausgrenzung als normal betrachtet werden, und Spannungen zwischen Staaten verstärken sowie die Unterstützung der Öffentlichkeit für demokratische Institutionen und wertebasierte internationale Strukturen unterminieren.

The Dialogue examined the growing problem of “rehabilitating” individuals who participated in the crimes of the Holocaust, producing a study that will be available to help governments, civil society partners, NGOs, universities, subject matter experts, and other interested parties understand the problem and combat it.  Rehabilitation takes place in many countries, for many reasons, ranging from transparent attempts to make heroes out of villains to serve contemporary political ends, to a lack of historical awareness.  Regardless of the motivation, “rehabilitating” those who perpetrated the Holocaust can promote impunity for war criminals, normalize antisemitism, racism, discrimination, and exclusion, increase tensions between countries, and undermine public support for democratic institutions and values-based international structures.

Zitiert aus den Veröffentlichungen der beiden Aussenministerien

Hier gibt es nichts zu deuteln: in dem Masse, wie die Zeitzeugen sterben, ist eine Zunahme von geschichtsverfälschenden Narrativen festzustellen. Im Geburtsland des Autors wurde vor wenigen Jahren, durch die Regierung Orbán, an einem zentralen Ort ein Denkmal aufgestellt, welches das Tätervolk der Ungarn zu Opfern hochstilisiert. In Polen ist es erklärte Regierungspolitik, davon ablenken zu wollen, dass die Konzentrationslager, sehr wohl von den Nazis errichtet, aber zugleich eben im Klima des jahrhundertealten antijüdischen Ressentiments und Verfolgungen existierten. Zugleich erdreistet sich die Regierung dazu, Wiedergutmachung von Deutschland zu fordern. Genannt werden soll an dieser Stelle auch, dass es in der Ukraine und im Baltikum ebenso Kräfte gibt, die die Verstrickung ihrer Bevölkerung in die Gräueltaten von Wehrmacht und SS relativieren wollen. Was von dem um Spaltung bemühten Russland weidlich ausgenützt wird, auch jenseits der Gebiete dieser ehemaligen Satellitenstaaten.

In diesem Kontext ist ebenfalls zu nennen, wie wenig sich die Schweiz bisher ihrer Verantwortung im Zweiten Weltkrieg gestellt hat. Ausser Sonntagsreden, ausser dass man hinter der Thematisierung von “nachrichtenlosen Geldern” einzig einen Angriff auf den Finanzplatz Schweiz zu sehen, dem Fehlen eines nationalen Gedenkortes und den “Eiertänzen” um die bestehenden Denkmäler gibt es wenig. Dass die Schweiz, im Jahr 2016 Präsidentin des “International Holocaust Remembrance Association” als fast einziges – halbwegs – sichtbares Symbol ein Sitzungszimmer im Bundeshaus nach Carl Lutz, dem Schweizer Retter von Tausenden Budapester Juden, zu benennen, ist ein Hohn, wenn man auch weiss, dass Lutz bis zu seinem Tode ignoriert, abgeschoben und sogar seiner Verdienste beraubt geblieben war!

Diese Mechanismen müssen selbstverständlich offengelegt werden, damit sie abgewehrt werden können. Es ist zu hoffen, dass hierbei nicht neue “Scheuklappen” aufgesetzt werden. Das gebietet der Anstand und die Würde, nicht nur der Verstorbenen, aber auch der Überlebenden und Nachfahrenden, über deren Traumata auch heute noch zu wenig gesprochen wird.

Über Thomas Morvay 311 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

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