Letzte Aktualisierung am 30. September 2021 durch Thomas Morvay
Itzehoe – Gegen die 96-jährige Irmgard Furchner hätte heute vor dem Landgericht Itzehoe (im Bundesland Schleswig-Holstein) der Prozess – wegen Beihilfe zum Mord in über 11’000 Fällen – beginnen sollen. Die ehemalige Sekretärin im damaligen Konzentrationslager Stutthof, östlich von Danzig, allerdings erschien nicht vor Gericht. Mittlerweile ist die aus ihrem Pflegeheim geflüchtete Frau, die per Haftbefehl gesucht worden ist, gefasst und in Haft genommen worden. Ihren Klarnamen haben deutsche und internationale Medien bekannt gemacht.
Im Vorfeld des Prozesses wurden nur wenige, gesicherten Fakten bekannt. So hiess es einerseits, die Angeklagte sei während der ihr zu Lasten gelegten Taten zum Teil noch minderjährig gewesen sein, weswegen Jugendstrafrecht anwendbar wäre. Auch soll sie einerseits das Konzentrationslager nie betreten haben. Andererseits sei sie, als erste Stenotypistin für die Niederschriften der Befehle des Lagerkommandanten zuständig gewesen, somit also Exekutionsbefehle, Verlegungen in die Todeslager und derlei Dinge mehr geschrieben haben. Bekannt ist ebenfalls, dass sie bereits im vergangenen Sommer, in einem Schreiben an den zuständigen Richter angekündigt haben, am Verfahren nicht persönlich erscheinen zu wollen, sowie dass ein erstes Gutachten ihr eine derart schwere Herzerkrankungen bescheinigt haben soll, dass ihr das Beiwohnen am Prozess unmöglich machten würde. Weswegen sie allerdings dann den Fluchtversuch hätte unternehmen sollen, bleibt unklar.
Die Umstände dieses Fluchtversuchs werden zweifelsohne noch zu reden geben. Sie dürften nicht nur relevant sein, um die Schuldfähigkeit der Angeklagten zu beurteilen, aber auch, um allfällige Komplizen resp. Gehilfen bei der Flucht ausfindig zu machen und zu belangen. Dies sind alles jedoch Argumente eines Rechtsstaates, etwas was den Opfern der Gräueltaten des Holocaust – auch und gerade im letzten Kriegsjahr in KZ Stutthof – nicht nur nicht zuteil wurde, sondern um die sich die Täter und ihre Helfershelfer nicht im geringsten kümmerten. Es erschliesst sich sodann nicht, weswegen eine Angeklagte, die über genügend Einsicht verfügt, über Hohn und Spott ihrer Person gegenüber Gedanken zu machen, sich auf eine Schuldunfähigkeit im Sinne eben des Rechtsstaats berufen sollte, oder auch dürfte. Das wäre eine Pervertierung des Rechts!
Auch in diesem Fall ist bereits die Frage, in der öffentlichen Diskussion, gestellt worden, was mit einer Verurteilung einer so hochbetagten Person erreicht würde. Die Frage ist jedoch, mit Verlaub, eine Unverschämtheit – gegenüber den Opfern, bei denen es sich um alle Altersklassen, vom Säugling bis zur Greisin gehandelt hatte – und im Falle derer, welche den Holocaust überlebt haben, auch gegenüber deren Nachfahren. Das Sekundärtrauma der sog. Zweiten Generation ist mittlerweile genügend erforscht, dass man sagen kann, auch für diese Menschen ist es ein Bedürfnis, auf Gerechtigkeit zu pochen. Recht haben und Recht bekommen mögen zwar zwei unterschiedliche Dinge sein, aber alleine das Bewusstmachen der Grausamkeiten, die den Opfern widerfuhren, gebietet es, dass jeder Täter sich zu verantworten hat. Insoweit geht es vielleicht nicht darum, ein Urteil zu bekommen, aber zumindest darum, Anklage zu erheben, die Täterin mit dieser zu konfrontieren – und den noch lebenden Opfern und Zeugen Gelegenheit zu geben, zu berichten!
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