Ahlam Tamimi – Interpol, Intifada und das Internationale Recht

Palästinensische Terroristin Tamimi in Kairo
Die im Austausch gegen den von der Hamas entführten israelischen Soldaten Gilad Shalit freigepresste Sbarro-Attentäterin, Ahlam el Tamimi, bei ihrer Ankunft in Kairo am 18. Oktober 2011(Photo credit: Ahmed Asd - ZUMA/imago images)

Letzte Aktualisierung am 16. März 2021 durch Thomas Morvay

(Jerusalem) – Was für eine Farce! Ahlam Tamimi ist für eine der schlimmsten Verbrechen während der zweiten Intifada verantwortlich: dem Bombenanschlag auf die Pizzeria der Kette Sbarro im Jahr 2001 in Jerusalem, aufgrund der 15 Todesopfer sowie 130 Verletzten oft auch das Sbarro Massaker genannt. Tamimi wurde zu mehrmals lebenslänglich verurteilt, jedoch im Zuge des Gefangenenaustauschs um den israelischen Soldaten Gilad Shalit freigepresst. Seither lebt sie in Jordanien. Da Geschädigte aus den Vereinigten Staaten ebenfalls gegen sie klagen, verlangt die USA seit Jahren ihre Auslieferung, jedoch ohne Erfolg. Nun wurde sogar der internationale Haftbefehl, die bei Interpol bestehende „red notice“ gelöscht.

Interpol bestätigte auf Nachfrage die Aufhebung der „red notice“, ohne diesen Schritt in irgendeiner Weise zu erläutern. Aus Kreisen des Tamimi-Clans kam der vollmundige Hinweis, die langwierigen rechtlichen Bemühungen der Familie hätten schliesslich der Sache zum Erfolg verholfen. Doch so einfach liegen die Dinge nicht, ein genaueres Hinschauen ist notwendig. Im Raum stehen zwei Streitpunkte: erstens, ob das Abkommen zwischen Jordanien und den Vereinigten Staaten gültig resp. Zustande gekommen ist, und zweitens, ob und wie die Frage des sog. Double Jeopardy im Internationalen Strafrecht anwendbar ist. Bei letzterem handelt es sich um einen Rechtsgrundsatz, der auf Römisches Recht zurückgeht, wo es als „ne bis in idem“ geläufig war, also das Verbot, für den selben Straftatbestand zweimal belangt zu werden. Darüber hinaus ist zu würdigen, ob es die Palästinenser in einem weiteren Bereich ihrer Lawfare geschafft haben, ihre verschrobene Sicht der Dinge durchzusetzen.

Der Staatsvertrag über die Auslieferung von Straftätern zwischen Jordanien und den USA wurde im Jahr 1995 von beiden Ländern unterzeichnet. Als solcher wurde er durch Präsident Bill Clinton dem Senat zur Ratifizierung unterbreitet. Der damallige US-Präsident schrieb dazu:

The Treaty establishes the conditions and procedures for extradition between the United States and Jordan. It also provides a legal basis for temporarily surrendering prisoners to stand trial for crimes against the laws of the Requesting State.
The Treaty further represents an important step in combatting terrorism by excluding from the scope of the political offense excep- tion serious offenses typically committed by terrorists, e.g., crimes against a Head of State or first family member of either Party, air- craft hijacking, aircraft sabotage, crimes against internationally protected persons, including diplomats, hostage-taking, narcotics trafficking, and other offenses for which the United States and Jor- dan have an obligation to extradite or submit to prosecution by rea- son of a multilateral international agreement or treaty.

Quelle: Extradition Treaty with Jordan, April 24, 1995 US Congress

Das Oberste Gericht in Jordanien entschied 2017, dass das Abkommen vom jordanischen Parlament nie ratifiziert worden sei, und es somit Jordanien nicht erlaubt ist, Tamimi an die Vereinigten Staaten auszuliefern. Wiederholten Druckversuchen von amerikanischer Seite, einschliesslich Drohungen aus der Trump-Administration, Jordanien Wirtschaftshilfe vorzuenthalten, widerstand das haschemitische Königreich bisher erfolgreich.

Jordaniens Bevölkerung besteht zu 70% aus Palästinensern, die Königsfamilie ist von der arabischen Halbinsel (Hejaz) eingewandert, bzw. von der damaligen Mandatsmacht England der ansässigen Bevölkerung aufgezwungen worden. Einen von Syrien unterstützten Umsturzversuch durch die Palästinenser im Jahr 1970 hat der damalige König Hussein, mit Unterstützung aus Israel, niedergeschlagen und die PLO aus dem Land gejagt. Das ist konsistent mit der bis heute geltenden Linie, wonach der Hashemiten-Machthaber eine gewisse Handlungs- und gar Narrenfreiheit geniesst, was seine Haltung zur “palästinensischen Sache” betrifft, jedoch knallharte Reaktionen zu gewärtigen hat, wenn er eine gewisse Linie überschreitet. Letzteres geschah etwa, als sich König Hussein militärisch im Sechs-Tage-Krieg engagierte, und in der Folge die während 19 Jahren besetzten Gebiete westlich des Jordans verlor. Jordanien gilt heute allgemein als eine Schlüsselgrösse im Kampf gegen ISIS, aber auch als Bollwerk gegen die iranischen Hegemoniebestrebungen. Wohl auch deshalb hält neben den USA auch die Europäische Union an Jordanien fest. Die Bundesrepublik resp. die deutsche Luftwaffe, welche Aufklärungs-Unterstützung im Rahmen der internationalen Allianz im Irak leistet, verlegte ihre Basis vom türkischen NATO-Stützpunkt Inçirlik nach Jordanien.

Sodann stellt sich noch die juristisch interessante Frage, ob es zulässig ist, Tamimi in den Vereinigten Staaten für ein Verbrechen zu belangen, für welches sie bereits in Israel rechtskräftig verurteilt worden war und, bis zu ihrer Freipressung, teilweise auch ihre Strafe verbüsst hat. Der “double jeopardy” genannte Rechtsgrundsatz, der sich aus dem 5. Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung ableitet, stipuliert:

No person shall be held to answer for a capital, or otherwise infamous crime, unless on a presentment or indictment of a grand jury, except in cases arising in the land or naval forces, or in the militia, when in actual service in time of war or public danger; nor shall any person be subject for the same offense to be twice put in jeopardy of life or limb; nor shall be compelled in any criminal case to be a witness against himself, nor be deprived of life, liberty, or property, without due process of law; nor shall private property be taken for public use, without just compensation.

Quelle: The Constitution – Fifth Amendment

Im jüngst entschiedenen Fall Gamble v. United States bestätigte die Mehrheit der neun Bundesrichter – im Stimmenverhältnis von 7-2, wobei die Minderheit durch die Richter Ruth Bader Ginsburg und Neil Gorsuch vertreten waren – die Doktrin der sog. separaten Souveräne, wonach “double jeopardy” keine Anwendung findet, wenn unterschiedliche Rechtssysteme ihre eigenen Definitionen über den gleichen Straftatbestand haben. In ihrer Argumentation bezogen sich die Richter ausdrücklich auch auf den internationalen Kontext. Wie in der renommierten Fachzeitschrift zitiert:

This sovereign-specific interpretation “honors the substantive differences between the interests that two sovereigns can have in punishing the same act.”14. Id. at 1966. Three antebellum cases illustrated such differences.15. Id. The first two upheld concurrent criminal jurisdiction, recognizing that “the same act . . . [can] constitute an offense against both” federal and state governments.16. Id. (quoting United States v. Marigold, 50 U.S. (9 How.) 560, 569 (1850)); seealsoid. (citing Fox v. Ohio, 46 U.S. (5 How.) 410, 434–35 (1847)). The third offered an example of an act implicating “diverse interests”: an assault on a U.S. marshal offends against the federal government, as an obstruction of the legal process, and against a state, as a breach of its peace.17. Id. at 1966–67 (citing Moore v. Illinois, 55 U.S. (14 How.) 13, 20 (1852)). This principle is clearer, the Gamble Court noted, in the case of crimes committed abroad: absent the doctrine, a foreign prosecution could bar the United States from prosecuting, say, the murder of a U.S. national in another country.

Quelle: Harvard Law Review, Gamble v. United States, 8. November 2019

Allem Anschein nach teilt Interpol, wie angedeutet auch unterstützt durch ein nicht näher bezeichnetes Gericht, diese Auffassung nicht. Das ergab dann für Tamimi die Aufhebung des internationalen Haftbefehls. Es dürfte interessant werden, wie sich die neue Administration der Vereinigten Staaten, unter Präsident Biden und ihrem Justizdepartment, konkret positionieren werden: ob sie weiterhin die Haltung vergangener Administrationen beider Parteien mittragen (Obama wie Trump), nicht zuletzt dank der Schützenhilfe durch das Oberste Gericht, oder ob sie, aus dem überwiegenden geostrategischen Interesse im Falle Jordanien, von der Forderung abrücken, unter Berufung auf die Minderheitsposition in Gamble v. United States.

Genauso spannend und genauso brisant dürfte schliesslich die Haltung und Handlungsweise Israels aussehen. Der jüdische Staat hat eine “Tradition”, mit rückfälligen, freigepressten Straftätern knallhart abzurechnen. Tamimi, die in den Jahren nach ihrer Freilassung im jordanischen Fernsehen unverblümt ihre Propaganda verkünden durfte, erfüllt dieses Kriterium zweifellos. Doch gerade bei Jordanien dürfte der lange Arm des Mossad sehr vorsichtig agieren, und die Regierung, welche letztendlich eine gezielte Tötung absegnen muss, sich noch sehr genau an das Debakel erinnern, nachdem der Versuch, den Hamas-Führer Meshaal, in den Strassen Ammans zu ermorden, fehlschlug und eine massive Krise mit Jordanien verursachte. Das letzte Wort ist hier also noch lange nicht gesprochen.

Über Thomas Morvay 326 Artikel
Der mit Sprache Bilder kreiiert Seit über 10 Jahren journalistisch tätig, vorwiegend zu Themen Israel und jüdisches Leben. Zuvor Korrespondent und Redaktioneller Mitarbeiter für die European News Agency, und seit geraumer Zeit als Blogger hier auf dieser Plattform. Davor war ich auch fleissig als Kommentator über die Plattform Disqus unterwegs, u.a. bei der Jerusalem Post oder die Neue Zürcher Zeitung. Inhaltlich mache ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung, dass für mich die sog. Zwei-Staaten-Lösung - die ja wahl- und bezeichnenderweise auch schon ein Konzept für mehr als 2 Staaten war - eine in der westphälischen Ordnung (Henry Kissinger) verwurzelte und europazentrische Sichtweise - überholt resp. zumindest neu gedacht werden muss. Als Sprössling zweier Überlebenden der Schoa ist das, was man heutzutage Erinnerungskultur nennt, naturgemäss mein Thema. In diesen Zusammenhang gehört die Auffassung, dass man nach wie vor lieber tote Juden beweint, als dass man sich lebenden Juden - in Israel oder in der Diaspora - zuwendet, bekennt und mit ihnen solidarisiert. In dieser Hinsicht halte ich meinem Land, der Schweiz, vor, sich ihrer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht gestellt zu haben. Da verkommt sogar die Diskussion über eine zentrale Gedenkstätte oder zu Raubkunst zur willkommenen Ablenkung vom Thema. Mitglied im Deutschen Verband der Pressejournalisten

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